Ein Stoff wie dieser geht uns alle an
Regisseur Peter Sellars und Dirigent Teodor Currentzis greifen tief in Mozarts Oper „La clemenza di Tito“ein. Die Marschrichtung lautet: mehr künstlerischer Wagemut. Was hat das für Folgen?
Wenn der Chef wechselt, werden die Weichen neu gestellt. Das ist auch in Salzburg so. Bei den Festspielen gibt jetzt Markus Hinterhäuser die Richtung vor, und schon vor seinem Antritt ist er geführt worden als ein Festivalmacher, dem der Fortschritt der Kunst mehr am Herzen liegt als das Konservieren von Bewährtem. Was also wird von dieser neuen Intendanz zu erwarten sein? Nimmt man die erste vollszenische Opernpremiere der Festspiele zum Maß, weist man der Aufführung von Mozarts „La clemenza di Tito“gar Signalcharakter zu, so wäre festzustellen, dass die Marschrichtung lautet: mehr künstlerischen Wagemut!
Nach mehr als fünfzehnjähriger Abwesenheit ist der Regisseur Peter Sellars zu den Festspielen zurückgekehrt, ein Mann, der in Salzburg zu der Zeit, als Gerad Mortier frischen Wind in das Karajan-verkrustete Festival blies, fast so etwas wie ein Hausregisseur war. Und dass Sellars nach wie vor kein Mann beschaulicher Opernspielchen ist, das macht nun auch seine Version von Mozarts letzter Oper deutlich. „Die Milde des Titus“, die das Geschehen im antiken Rom ansiedelt, zieht Sellars radikal ins Hier und Heute, indem er sie an die großen Zeitthemen Flucht und Gewalt ankoppelt. Sesto, eine der Hauptfiguren des Dramas, und seine Schwester Servilia werden gleich zu Beginn als junge Flüchtlinge im Reich des Kaisers Titus vorgestellt.
Sellars zieht hier einen seiner Trümpfe: Titus und sein Umfeld – sein Polizeiminister Publio, der junge Annio, der sich in Servilia verlieben wird, Vitellia, die dem Kaiser nach dem Leben trachtet – sie alle sind dunkelhäutig, werden dargestellt von dunkelhäutigen Sängern. Sesto und Servilia hingegen sind weiß. Ein unmissverständlicher Appell, den Sellars hier hinaus sendet: Leute, geht mal in Distanz zu eurem Eurozentrismus! Stellt euch vor, ihr, die Weißen, wärt die Schutzbedürftigen, und die Farbigen die, die euch Aufnahme gewähren! Sellars spart nicht mit weiteren Imperativen. Als Titus – so sieht es das Libretto vor – seine in den Kolonien zusammengerafften Reichtümer unters Volk verteilt, deutet Sellars dies um zu einer Geste der Mildtätigkeit im Geiste der Migration: Die kaiserlich Beschenkten, das sind die Flüchtlinge, die zuvor, wie Sesto und Servilia, hinter einem Zaun gehalten wurden und denen nun die „Einreise“gewährt wird – und so kommen sie von der Bühne der Felsenreitschule herunter ins schlagartig hell erleuchtete Auditorium und winken freudestrahlend dem Publikum zu. Die ist nicht misszuverstehen. Bei Sellars wird Sesto zum Mörder am Kaiser. Ein Schuss aus Sestos Pistole streckt ihn nieder, er lebt zwar noch den ganzen zweiten Akt hindurch, stirbt aber am Ende, nachdem er allen Widersachern vergeben hat. Hier liegt der Gedankenkern der Inszenierung: Die Spirale der Gewalt wird nur ein Ende nehmen durch wechselseitige Vergebung. In einem Begleit-Essay verweist Sellars auf das Vorbild Nelson Mandela.
Eine gewagte, mutige szenische Lesart der „Clemenza di Tito“. Doch damit nicht genug des Wagemuts. Im Orchestergraben am Pult steht Teodor Currentzis, der griechische Dirigent aus der russischen Stadt Perm, dem ein Ruf wie Donnerhall vorauseilt für seine kompromisslosen Interpretationen. Und Currentzis, der mit seinem russischen Originalklang-Ensemble MusicAeterna sowie dem gleichnamigen Chor nach Salzburg gekommen ist, hat nicht anders als Peter Sellars eine grundstürzende Sicht auf den „Tito“. Die Secco-Rezitative, die nicht von Mozart stammt – der seine Oper unter enormem Zeitdruck komponierte –, hat er bis auf wenige Ausnahmen gestrichen. Die Lücken füllt er jedoch wieder auf – mit Mozart’scher Kirchenmusik. Viermal erklingen Abschnitte aus der großen c-Moll-Messe, dazu gibt es Adagio und Fuge in c-Moll und, am Schluss der Oper, die Maurerische Trauermusik. Die Implantate sollen den Ernst der Inszenierung unterstreichen, und das funktioniert auch, freilich mit dem unbeabsichtigten Effekt, dass diese grandiosen Werke aus Mozarts Hand seine „Tito“-Musik fast ein wenig an den Rand drängen, zumindest im zweiten Akt. Currentzis’ Chirurgie ist eine, die ihre Tücken hat.
Jedoch: Mozart von diesem Dirigenten zu hören, der sich am Pult biegt wie eine Pappel bei Starkwind und mit jeder Körperfaser zu kommunizieren scheint mit Sängern und Musikern, das ist ein Ereignis. DaBotschaft bei legt Currentzis beim „Tito“gar nicht mal die Flitzetempi hin, die man sonst von seinen Mozart-Interpretationen kennt. Viel eher ist ihm jetzt an Momenten tönender Stille gelegen, und so dehnt er Fermaten sekunden-, ja zigsekundenlang. Currentzis kann in diesen Augenblicken die Spannung nicht nur halten, er steigert sie sogar. Sein junges Orchester, das im Stehen spielt, ist stets phänomenal auf den Punkt, und Ausnahmerang besitzt die Continuogruppe, vorneweg Maria Shabashova, die das Hammerklavier in den wenigen verbliebenen SeccoRezitativen nicht nur grollen, säuseln, kommentieren lässt, sondern sich sogar mit spritzigen Einwürfen in Arien hören lässt. Gäb’s in den Orchestern dieser Welt doch mehr solcher Kreativrezitatoren!
Die Sänger – vorneweg Russell Thomas als Titus und Golda Schultz als Vitellia – sind solide, reichen aber nicht ganz heran an das von Salzburg behauptete Festivalniveau. Mit einer Ausnahme, der Mezzosopranistin Marianne Crebassa in der Hosenrolle des Sesto. Sie gewährt Einblick in eine ganze Palette von Seelenlagen eines verliebt-verwirrten jungen Gemüts. Ihr „Parto, ma tu ben mio“, auf der Bühne zusammen mit dem Bassettklarinettisten als tönender Allegorie der besungenen Geliebten, ist ein Moment zeitenthobener Intensität.
Ein in vielerlei Hinsicht zu Gesprächen Anlass gebender „Tito“also am Anfang dieses Festspielsommers, ein Mozart jenseits der Konvention. Ein Weg, der, geht es nach dem Publikum, nicht der falsche ist. Stürmische Zustimmung vor allem für Teodor Currentzis und sein Ensemble, aber auch für das Team um Peter Sellars. Ganz offensichtlich wird honoriert, was während der ganzen drei Stunden zu spüren ist: dass da Überzeugungstäter am Werk sind.