Tief ergreift das Schicksal des Odysseus
In Salzburg setzt der Dirigent John Eliot Gardiner erneut auf die Macht der Musik. Davon profitiert ein Jubilar
Seit den Kindertagen der Oper hat ihre Schöpfer, aber auch das Publikum immerzu die Frage gezwickt: Prima la musica e poi le parole (um den Titel einer Salieri-Oper zu zitieren)? Gebührt in der Oper der Musik der Vorrang oder dem gesungenen Wort? Heutzutage muss man das alternative Paar um einen weiteren Gegensatz ergänzen: um die Szene, die Ebene der Regie. Hat sie in der aktuellen Wahrnehmung der Oper doch derart an Bedeutung gewonnen, dass es manchmal den Anschein hat, Musik und Wort seien ins Hintertreffen geraten.
Dirigenten der älteren Generation hört man gelegentlich über diesen Bedeutungsschwund klagen, und ein solcher Gedanke mag wohl auch in John Eliot Gardiners Entscheidung mitgewirkt haben, zum 450. Geburtstag von Claudio Monteverdi seine drei erhaltenen Opern halbszenisch aufzuführen. Empfindet es der 74-jährige Dirigent doch „als einengend“, wie er sagt, „dass das Auge wichtiger sei als das Ohr“. Und so ist bei Gardiners Monteverdi-Zyklus in Salzburg die Szene nur Dienerin, was die Frage aufwirft: Trägt diese Entscheidung?
Nach dem Auftakt mit „Orfeo“und noch vor der finalen „Incoronazione die Poppea“war der Lackmustest für Gardiners Unternehmen „Il ritorno d’Ulisse in patria“, Monteverdis Oper über die nach langer Irrfahrt erfolgende Rückkehr des Troja-Kämpfers Odysseus in seine Heimat Ithaka und die dortige Wiederbegegnung mit seiner Frau Penelope. Denn entgegen den beiden anderen Opern hat Gardiner den „Ulisse“für sein Jubiläumsprojekt erstmals einstudiert.
Die Odysseus-Geschichte vor der Naturkulisse der Salzburger Felsenreitschule also mit einem guten Dutzend Sängern, die, in nur leicht antikisierenden Gewändern, ihren gesungenen Text mit stilisierten Bewegungen begleiten und sich zumeist vor, hinter oder zwischen dem auf der Bühne platzierten Orchester bewegen: Natürlich vermag diese hal- be Szene keine Interpretation des Geschehens zu liefern, wie das gerade etwa der durchinszenierte Salzburger Mozart-„Titus“tut. Besitzt der „Ulisse“deshalb weniger Relevanz? Gardiner, nicht nur Dirigent, sondern (mit Elsa Rooke) auch als Regisseur verantwortlich für die Aufführung, vertraut auf die Kraft des Mythos, auf das Überzeitliche, das in der Heimkehrergeschichte steckt; vertraut auf die Macht der „Fantasie“(Gardiner), die das Geschehen einer mythischen Vergangenheit so zu wandeln vermag, als fände es im Heute statt.
Dass dieser Transformationsprozess ohne vollszenische Hilfe gelingt, ist nicht zuletzt eine Leistung von Monteverdis Musik, die ja selbst schon aus der Zeitenferne kommt, aber eben, wie alle große Kunst, durch Zeitgrenzen schreitet. Da Gardiner die Partitur des „Ulisse“mit größter Bedachtsamkeit zelebriert – was die Netto-Aufführung über drei Stunden treibt –, vermag auch das Wort plastisch hervorzutreten, wodurch sich, in wechselweisem Ineinandergreifen, die ganze affektive Kraft des „recitar cantando“, des singenden Erzählens entfaltet.
Das geht nicht ohne Sänger, die auch etwas zu sagen haben, und für Gardiner hat gerade bei den Protagonisten vokaler Schönklang keine primäre Bedeutung. Furio Zanasis Bariton besitzt schon reife Noten, und so ist die Stimme auf natürliche Weise immer auch Resonanzraum für Ulisses Erfahrungen von Krieg und Irrfahrt. Lucile Richardot als Penelope sucht das Pathos in der Betonung der Dissonanz, lässt ihren Mezzosopran die herben Klagetöne einer Verlassenen hervorstoßen. Wie auch in den beiden anderen Opern zeigt sich das gesamte Sänger-Ensemble auf hohem Niveau, begleitet von den English Baroque Soloists, deren silbriger Orchesterklang manchmal jedoch etwas Kathedralenkühle verströmt. Trotzdem: John Eliot Gardiners zyklisches Monteverdi-Projekt ist nicht nur ein angemessener Geburtstagsgruß für den ersten großen Komponisten der Operngeschichte; es ist auch ein Meilenstein in der Karriere dieses herausragenden Dirigenten der Alten Musik.