Ich fotografiere um mein Leben
Der Schweizer Künstler Thomas Krempke protokolliert und erforscht seine Wahrnehmung und seinen Alltag. Stellvertretend für uns kämpft da einer auf verlorenem Posten
Thomas Krempke? Nie gehört. Gründete mal ein Videokollektiv, drehte experimentelle Filme, reiste als Spezialist für den Transfer von digitalen Filmen auf Zelluloid um die Welt, dann Lebenskrise. Warum sollten wir uns für diesen heute 60-jährigen Schweizer interessieren? Einen Mann, der seit 2008 andauernd, ja: zwanghaft fotografiert?
Es gibt gute Gründe. Denn Thomas Krempke denkt nicht nur über die existenzielle Notwendigkeit des Bildermachens nach, er hat für sich in der Wahrnehmungsform Fotografieren eine Methode gefunden, die Rettung und Fluch zugleich ist. „Wenn ich fotografiere, habe ich kein Thema, keine Aufgabe, ich bin. Ich fotografiere, um sicher zu sein, dass es mich gibt, dass es die Welt gibt“, schreibt er in seinem Buch „Das Flüstern der Dinge“.
Dieses über 600 Seiten dicke Werk ist ein Kondensat seiner Fototagebücher, die er seit fast zehn Jahren führt. Krempke ist nicht in der Cloud. Er macht seine Fotos intuitiv und digital, aber dann druckt er sie aus und klebt sie in Hefte. Dazu schreibt er Tagebuch – tausende von betexten Bilderseiten seit 2008. Immer wieder kreist Krempke um das Thema Wahrnehmung und Foto- grafie. Dabei, und das zeichnet dieses Seh-Lesebuch aus, lässt sich Thomas Krempke von seinen Empfindungen leiten – er ist kein Theoretiker, obgleich er als Filmer und Fotokünstler einen anderen Background hat als Fotoamateure. Seine Bilder macht er „aus der Hosentasche“.
Vieles von dem, was er zu seinen Bildnotaten schreibt (und dazu, wie sie entstanden und warum), ist von schlichter Wahrheit. Gerade deshalb kommt Krempke dem Leser nahe. „Das Fotografieren ist Mittel gegen die Angst, dass alles immer so schnell vorbei und nicht aufzuhalten ist. Und die Fotos sind Ausdruck der Sehnsucht, die Zeit möge stehen bleiben.“Das klingt banal, ist aber bei Krempke unterlegt mit einer lebensnotwendigen Beweisführung – der Kartografie seines Alltags. Was zeigen die Fotografien? Alles, was die Welt ist. Oder, um mit Krempke zu sprechen: „Wo ich hinsehe, verändert sich die Welt.“
Ein Blick aus der Züricher Wohnung auf die Straße, eine leere Kaffeetasse, ein Foto aus einem Flugzeug auf das Lichtermeer von Mexiko City, eine Herdplatte, Schnee, Bahngleise, eine Frau, feiernde Fußballfans, Ölflecken auf der Straße, eine Tiefgarage… Lange Bildstrecken, ohne Legende. Gewöhn- lichkeit, die aber, je länger man sich in diesem Foto-Tagebuch verliert, den Sog des Außergewöhnlichen entwickelt. Eine Parallelwelt. Was ist wahr, was ist da? Der Auslöser der Kamera ist sein Zauberstab – „die Welt wird sichtbar, durch mich. Die Welt kommt zum Vorschein, dort, wo ich bin.“Thomas Krempke macht Erfahrungen, die wir kennen – und wird für den Leser zu einem Medium, das das „Flüstern der Dinge“hörbar macht.
„Mit meinen privaten Bildern stemme ich mich gegen den Lauf der Welt“, heißt es im Tagebuch, „ich tue es für mich, nur um alles besser auszuhalten. Das Erschaffen der eigenen Bilderflut, das anschließende Auswählen, Einkleben und Schreiben erinnert an das Träumen.“Thomas Krempke reflektiert die Angst vor der Vergänglichkeit. Er weiß, dass er mit seiner „Fotografomanie“ein Leck zu stopfen versucht, das nicht zu stopfen ist. „...ich müsste jede Sekunde fotografieren, um mich lebendig zu fühlen, um mit der Welt in Kontakt zu treten ...“
Mit Verzweiflung, dann wieder mit nachsichtiger Resignation fotografiert Krempke gegen das Verschwinden und das Gesetz der Vergänglichkeit an. „Alles zieht vorüber, doch ich habe es gerade noch packen können“, schreibt er an guten Tagen neben ein paar Fotos. An schlechten solche Sätze: „Die Fotografie hinterlässt eine Spur des Vergehens, des Sterbens und des Niemehrwiederkehrenden, unausweichlich und mit brutaler Präzision.“Da ringt jemand stellvertretend für uns auf verlorenem Posten.
Auf eigentümliche Weise mischen sich in Krempkes schön gestaltetem Buch (viel Weißraum, lebendiger Bildrhythmus) verwischte Zufallsaufnahmen mit komponierten Kunstfotos, beiläufige Sujets mit Aufnahmen von Landschaften, Details mit Panoramen. Der Schweizer reist beruflich viel, aber sein Sehen richtet sich mit der gleichen „Notwendigkeit“auf einen Bauzaun in Zürich wie auf eine Moschee in Damaskus. „Ich werde gewahr, wie keine Sekunde der anderen gleicht, und das an jedem Ort der Welt, gleichzeitig und immerfort. Ich fotografiere um mein Leben ...“
Krempkes letzter Texteintrag steht auf Seite 608. „Vielleicht hat Thomas Bernhard ja recht, und die Fotografie ist wahrhaftig der Untergang der Menschheit.“Das Buch zum Untergang gibt es nun.
Thomas Krempke: Das Flüstern der Dinge. No 235, Edition Patrick Frey. 628 Seiten, 600 Abbildungen, 60 Euro