Der Wein schmeckt nach Wehmut
Wir besuchen die Synagoge und nehmen Abschied von Kriegshaber – unsere vielen Besucher schreiben noch einmal die Erzählung fort
Zum Beispiel Dyrk mit Y, Dyrk Becker – einer von vielen, die in diesen sechs Wochen mit uns vorm alten Tram-Depot an der Ulmer Straße saßen. Einer von so vielen, die in diese Kriegshaber-Erzählung gehören, die wir an sechs Dienstagen gehört, miterlebt, aufgeschrieben haben. Zum Abschied ist er wieder da. Dyrk mit Y – so stand es auch einmal in einer Schlagzeile, der vom 10. August, über Tag zwei: „Dr. Kling, Kriegshaber und das Y in Dyrk“. Jetzt, an Tag sechs, es ist längst September, reden wir bis in die Abenddämmerung, noch ist es mild, es gibt Wein aus Pappbechern. Und ja – der Wein schmeckt auch ein wenig nach Wehmut. Dyrk Becker sagt: „Ich habe wirklich keine Zeitung gelesen. Aber ihr, ihr habt mich zum Zeitungsleser gemacht. Tatsache.“
Schluck. Was sagen wir? Notieren, soweit das im Dämmerlicht dieses Abends noch geht. Und hier erzählen. So wie das, was uns Siegfried Gürth sagt – das ist der mit Casey Jones und den Manschettenknöpfen. Wunderbare Geschichte, hatten wir am 17. August hier erzählt. Auch Gürth ist an Tag sechs noch mal gekommen, er sitzt mit anderen auf dem Platz, dann verabschiedet er sich von uns. „Was das alles in mir ausgelöst hat, diese ganzen Erinnerungen, wie das wieder aufgetaucht ist, das alles von früher… also …“
Sentimental werden – große Gefahr an so einem Abschiedstag. Dagegen hilft ein Gespräch mit dem notorisch gut aufgelegten Rolf Schnell, der eben die Runde durch Kriegshaber gemacht hat, um die neueste Ausgabe des KriegshaberBlatts zu verteilen. Ein Stadtteilmagazin, Ausgabe vier – mit einer „Chefredakteurin“, die Julia Paul heißt und 17 Jahre alt ist. Schnell, geboren 1982, hat ein Logo erfunden, das viele tatsächlich für ein altes Kriegshaber-Wappen halten. In Grün vor einem rot-weißen Hintergrund die Silhouette des schönen alten TramDepots, vor dem wir sitzen. Das gibt es auch als Flagge mit dem Schriftzug „Kriegshaber“, in 135x90 cm, 25 Euro. Der Stadtteil Kriegshaber hat bald 20 000 Einwohner, sagt Schnell. „Wir wollen Identität stiften hier, etwas zusammenhalten.“Außer dem Wappenlogo hat Rolf Schnell deshalb auch ein Maskottchen erfunden. Es heißt „Krixi“.
Nach sechs Wochen in Kriegshaber gibt es immer noch Überraschungen. Da fragt man den Vorsitzenden der „Arge“Kriegshaber, einem Zusammenschluss von Vereinen, Pfarreien, Organisationen und Geschäften: Und wo wohnen Sie? „Früher mal in Kriegshaber, aber schon lange im Bismarckviertel“, sagt Andreas Schlachta. Er organisiert dort übrigens das Straßenfest. Und den Plärrerumzug vor ein paar Tagen, den hat auch Schlachta organisiert. Ein Machertyp? Zumindest der richtige für einen „Kraftakt“, wie es die 150 Festivitäten rund um die 100-Jahr-Feier zur Eingemeindung Kriegshabers nach Augsburg waren. „Da sind wir stolz drauf, ja.“
Zurücklehnen? Nein. Schlachta wünscht sich einen eigenen Raum für die „Arge“in Kriegshaber, einen Treffpunkt. Eine Neuauflage des legendären „Deutsch-amerikanischen Volksfestes“könnte er sich gut vorstellen. Und, und, und…
Begonnen hat dieser Dienstag mit einer Führung durch das jüdische Erbe Kriegshabers. Souzana Hazan ist überrascht, wie viele Leute sich an unserem mobilen Schreibtisch eingefunden haben. Da ahnen wir noch nichts von der Menschentraube, die außerdem weiter aufwärts an der Ulmer Straße direkt vor der ehemaligen Synagoge wartet…
Es ist an diesem sechsten Dienstag beeindruckend, wie einfach es den Menschen aus Kriegshaber jetzt gelingt, den Stadtraum in Besitz zu nehmen. Eine große Menschentraube vor dem Haus an der Ulmer Stra- ße, in dem früher die Einsteins lebten. Der Verkehr brandet im Takt der Ampeln auf. Das Zuhören draußen an der belebten Straße strengt an, aber es lohnt sich. Die jüdischen Häuser waren einmal die Mitte Kriegshabers. Knapp 20 standen da. „Kurze Zeit im 18. Jahrhundert war Kriegshaber ein mehrheitlich jüdischer Ort“, sagt Souzana Hazan an der Ulmer Straße und deutet auf ein denkmalgeschütztes Ensemble von „Judenhäusern“nahe der ehemaligen Synagoge. Die Juden siedelten sich vor den Toren Augsburgs an – weil sie in Augsburg zwar nicht wohnen, aber doch Handel treiben durften. Vor der alten Villa aus dem Jahr 1908 erinnert inzwischen eine Gedenktafel mit sieben Namen an die jüdische Familie Einstein, die einen großen Viehhandel betrieb in Kriegshaber. Es war ihr Wohnhaus. Einige aus der Familie konnten während der Nazidiktatur noch auswandern, viele andere wurden deportiert und ermordet. Dies ist nicht einfach nur lokale Geschichte, es ist das Gegenteil von erinnerungsseligem „Weißt du noch?“. Es geht um Ausgrenzung, um Vertreibung, um den Mord an Mitbürgern und Nachbarn. In der ehemaligen Synagoge beantwortet Hazan Fragen, sie erklärt – und weil es die Größe der Gruppe gar nicht erlaubt, ins Detail zu gehen und alles zu zeigen, lädt sie für Dienstag, 12. September, 17 Uhr, zu einer weiteren kostenlosen Führung für Interessierte ein.
Ines Roller kennt die Räume aus einer Zeit, als noch nichts saniert war, in den 1950 und 1960er Jahren. Sie zeigt auf den Wohntrakt im Erdgeschoss der Synagoge. Viele Jahre, sagt sie, habe sie in ihrer Kindheit hier gelebt, eine Mietwohnung der Stadt, sie erinnert sich noch an den großen Garten hinterm Haus. In der ehemaligen Synagoge ist der Name Einstein wieder gegenwärtig. Liese Einstein, die durch einen der Kinder-Transporte nach England ihr Leben rettete, steht im Zentrum der Installation, mit der Esther Glück derzeit künstlerisch die ehemalige Synagoge „lesbar“macht. „Garten – Gan“heißt die Ausstellung. Im Treppenhaus hört man die Stimme Liese Einsteins vom Band, eine Kriegshaberin, die erzählt – vom Leben und Überleben.
Später nehmen sich viele noch Zeit, um sich an unserem mobilen Schreibtisch vor dem alten TramDepot zu unterhalten. Dort sind auch zum zweiten oder dritten Mal Luzia Hübner und Brigitte Weinhofer. Heute erzählen sie, warum sie gekommen sind. Sie haben bei uns,
Eine Fahne für Kriegshaber. Und Maskottchen „Krixi“
„Sind Sie Helmut Rieger? – Nein, ich bin Heinz Paul.“
in dem besagten Artikel „Dr. Kling, Kriegshaber und das Y in Dyrk“gelesen, dass Heinz Paul und Helmut Rieger uns etwas über die Amerikaner im Stadtteil erzählt haben. Ob sie wieder da seien? Wenigstens einer von beiden? „Wir wissen nicht mehr, wie sie aussehen“, sagen sie. Zusammen haben sie vor 60 Jahren Völkerball gespielt und seien sich seitdem nie wieder begegnet. Ja, der Mann mit dem Schnauzer, er war vorher noch da. Jetzt sitzt er in der Straßenbahn, und die ist gerade startbereit. Moment. „Sind Sie Helmut Rieger?“– „Nein, ich bin Heinz Paul.“– „Ahhhhhh, Heinz.“Und weil die Bahn tatsächlich gleich losfährt, steigen Luzia Hübner und Brigitte Weinhofer einfach ein. Eine gemeinsame Stunde in der historischen Tram, die Fahrt Richtung Hauptbahnhof und Königsplatz aufnimmt. Die Fahrgäste werden von den anderen Besuchern am Schreibtisch verabschiedet, als ob ein großes Kreuzfahrtschiff am Hafen zur großen Weltreise ablegt.
Viel kleiner fiel die Klassenfahrt aus, zu der uns der Geigenbauer Hellmut Kreppel mitnimmt. Regelmäßig ist er an den vergangenen Dienstagen zu uns gekommen. Zum Abschied hat er etwas Besonderes mitgebracht: ein Buch, in Holz eingebunden, aus dem Jahr 1942, komplett von Schülerhand gefertigt. Jedes Blatt in Schönschrift geschrie- ben, jedes Blatt mit kolorierten Zeichnungen verziert: Skifahrer, die sich steile Hänge hinunterstürzen, das abendliche Beisammensein.
Was für eine wunderbare Geste der Schüler damals, einem solchen Ereignis einen solchen Rahmen zu geben. Man kann eine Freizeit einfach genießen. Dann wird im Anschluss erst eine Erinnerung, die immer weiter verblasst, bis sie ganz vergessen ist. Man kann solche Tage aber auch für immer festhalten, ihnen einen solch glänzenden Rahmen verpassen, dass sich niemand mehr traut, sie später gedankenlos wegzuwerfen.
Der Moderator, Schauspieler und Heimatdichter Hermann Wächter hat das zu seinem 80. Geburtstag auch gemacht: alles Wichtige und Bewahrenswerte in einem großen, dicken Ordner zusammengetragen: Fotos von früher als Kind, Fotos von wichtigen Anlässen mit bayerischen Politikern, mit Günter Holland, dem früheren Herausgeber unserer Zeitung, Artikel, Programme. In diesem Ordner blättert Wächter mit unseren Besuchern am Schreibtisch, während die Zeit, die uns vor dem Tram-Depot noch verbleibt, immer kürzer wird.
Davor ist Wächter einfach spontan bei uns aufgetreten – mit einer Mischung aus Anekdoten, mit schwäbischen Gedichten und Geschichten und mit einem Kriegshaber-Quiz. Wir sind selbst immer wieder davon überrascht, was alles passieren kann, wenn ein einfacher Schreibtisch sechs Dienstage lang auf einem Platz steht.
Dann schauen am letzten Tag auch Susanne Reng und Katharina Robinson („wie bei Robinson Crusoe“) vorbei. Erstere ist Leiterin des Jungen Theaters Augsburg im Kulturhaus Abraxas, letztere fängt dort gerade mit ihrem freiwilligen sozialen Jahr an. Reng berichtet, wie wichtig der Stadtteil Kriegshaber für ihr Theater ist. Es gab schon Projekte mit Kindern, in denen es darum ging, warum die Sommestraße Sommestraße heißt, bald wird es ein Bürgerbühnenprojekt über das Gebäude des Kulturhaus Abraxas geben und dessen Geschichte.
Das werden wir als FeuilletonRedaktion verfolgen. Dann wieder von unseren festen Schreibtischen aus. Das Sommerbüro, der Versammlungsplatz, das Erzählcafé Kriegshaber müssen wir abbauen. Kurz nach 21 Uhr ist der VW-Bus beladen, sind die leeren Pappbecher eingesammelt. Und weil das hier „Kultur aus der Ulmer Straße“war, sind wir auch bis zum Schluss nicht allein. Lutz Finsinger packt mit an. Wir fahren los. Jetzt besser kein Blick zurück. Wehmut, sentimental werden – Sie wissen schon.