Am Ende des Tunnels wartet der Ärger
Mit einem milliardenschweren Bauwerk am Brenner soll der europäische Zugverkehr beflügelt werden. Während Italien und Österreich dem Durchbruch näher kommen, hinkt Bayern mit den Planungen noch immer hinterher. Was läuft da schief?
Rosenheim Neubeuern ist einer dieser Orte, an denen man leicht ins Schwärmen geraten kann. Etwas oberhalb des historischen Marktplatzes thront auf einer Anhöhe das Schloss der oberbayerischen 4200Seelen-Gemeinde. Wer den kurzen Fußmarsch auf sich nimmt, bekommt nicht nur eines der exklusivsten Internate Deutschlands zu sehen – die Gymnasiasten wohnen und lernen dort für 38000 Euro im Jahr in den historischen Gemäuern –, sondern er wird auch mit einem traumhaften Ausblick belohnt. Von der Terrasse aus öffnet sich dem Besucher das Inntal mit seinen saftig grünen Wiesen, dichten Wäldern und den weißen Spitzen der Alpengipfel im Hintergrund. Die reinste Idylle. Doch der Schein trügt.
Wiederum nur ein paar Schritte entfernt wird klar, warum. Mehr als 200 Menschen haben sich dort in einer Turnhalle versammelt. Ein Großteil von ihnen ist sauer. Besorgt. Fühlt sich übergangen. Es geht um ein Mega-Projekt der Europäischen Union, eifrige Österreicher und Italiener, behäbige Bayern und ein gespaltenes Inntal.
„Es ist momentan ein Kampf Ost gegen West“, fasst Wolfgang Berthaler die Stimmung in seinem Landkreis zusammen. Seit drei Jahren ist der 62-jährige CSU-Politiker Landrat in Rosenheim, die 17 Jahre zuvor war er Bürgermeister der nicht weit entfernt liegenden Gemeinde Flintsbach. Er kennt die Menschen und die Bürgermeister im Inntal – und doch war er vor rund einem Jahr selbst überrascht, wie schnell die Stimmung kippte: „Ich habe sie nicht wiedererkannt. Von Sachlichkeit war da plötzlich keine Spur mehr, es wurde nur noch emotional.“Das habe sich bis heute nicht geändert.
Um zu verstehen, was das Inntal derzeit so entzweit, muss man rund 100 Kilometer weiter in den Süden fahren und Andrea Lussu einen Besuch abstatten. An seinem Arbeitsplatz riecht es nach verbranntem Streichholz, nach Schmutz und Steinestaub, nach feuchtem Keller. „Das ist klassische Tunnelluft“, beschreibt der 41-jährige Projektleiter die spezielle Duftnote tief unter der Erde – wo 35 Sprengungen pro Tag nicht nur geruchstechnisch ihre Spuren hinterlassen.
Dort, wo jedes Jahr Millionen Ur- lauber, Lastwagen und Güterzüge die Alpen überqueren, bauen Italien und Österreich seit zehn Jahren gemeinsam einen Tunnel quer durchs Bergmassiv der Stubaier und Zillertaler Alpen: den Brenner-Basistunnel. Durch ihn sollen ab dem Jahr 2026 bis zu 400 Züge täglich mit einer Geschwindigkeit von bis zu 250 Stundenkilometern vom italienischen Franzensfeste bis ins österreichische Innsbruck fahren. Das soll den Personen-, vor allem aber den Güterverkehr auf der Schiene beflügeln und die regelmäßig verstopfte Brenner-Autobahn entlasten.
Der Tunnel mit seinen zwei Hauptröhren und einem darunter liegenden Erkundungsstollen ist ein Bauwerk der Superlative. Zehn Milliarden Euro soll er kosten und am Ende 64 Kilometer lang sein. Er wäre der längste Eisenbahntunnel der Welt, knapp vor dem 57 Kilometer langen Gotthard-Tunnel in der Schweiz. Mit allen Zufahrtsund Verbindungswegen wird die Brenner-Trasse eines Tages insgesamt 230 Kilometer lang sein.
„Das ist auch absoluter Weltrekord“, sagt Tunnel-Chef Konrad Bergmeister. Ebenso wie die Leistung einer der gigantischen Bohrmaschinen, die sich unlängst an einem Tag 61 Meter weit durch den Berg fräste. Und noch ein Rekord: Die Europäische Union fördert das Projekt mit satten vier Milliarden Euro. Für sie ist der Tunnel ein ganz entscheidender Bestandteil der Eisenbahn-Achse von Skandinavien bis zum Mittelmeer.
Die Pläne dafür – und damit auch für den Tunnel unter dem Brenner – gibt es schon lange. Doch gerade in Deutschland gab es mindestens genauso lange Zweifel daran, ob es jemals so weit kommen wird. Die Italiener könnten sich so ein Projekt gar nicht leisten und die Österreicher es alleine nicht stemmen, habe man ihm immer wieder gesagt, erinnert sich Landrat Berthaler. Seit 20 Jahren begleitet ihn das Thema nun schon. Passiert sei lange gar nichts.
Selbst als im August 2007 im italienischen Mauls die ersten Löcher in den Berg gesprengt wurden, herrschte hierzulande noch Gelassenheit. Kaum einer der politisch Verantwortlichen in Berlin verschwendete offenbar einen Gedanken daran, was es bedeuten könnte, wenn eines Tages plötzlich 400 Züge – doppelt so viele wie heute – aus Italien und Österreich auf Deutsch- land und vor allem Bayern zurollen. Oder umgekehrt: Wenn Güter aus dem Norden auf dem Weg zu den Häfen am Mittelmeer am bayerischen Nadelöhr vor dem Tunnel hängen bleiben.
Erst 2012 kam etwas Bewegung ins Spiel. Der damalige Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) unterschrieb einen Staatsvertrag mit Österreich und sagte darin zu, dass auch Deutschland seinen Beitrag zum Gelingen des europäischen Bahnprojekts beitragen werde – unter anderem in Form eines Ausbaus der Bahnstrecke durchs Inntal von jetzt zwei auf dann vier Gleise. Damit soll gewährleistet werden, dass dort deutlich mehr Güterzüge und schnelle Personenzüge fahren können, ohne sich in die Quere zu kommen.
Fünf Jahre später ist das jedoch noch immer in weiter Ferne. Während die Tunnelbauer unter dem Brenner Halbzeit feiern („Wir sind im Zeitplan“, sagt Tunnel-Chef Bergmeister), gibt es in Bayern noch immer keine Pläne für den Ausbau der Bahnstrecke. Im Gegenteil: Der bloße Gedanke an zwei neue Gleise durch das Inntal sorgt dort für so viel Ärger, dass sämtliche Planungen seit rund einem Jahr quasi auf Eis liegen. Schon jetzt ist klar: Wenn der Tunnel wie geplant 2026 fertig ist, werden die mit Tempo 250 durch den neuen Tunnel rasenden Schnellzüge in Bayern kräftig abbremsen müssen und dann durch Orte wie Flintsbach, Brannenburg und Raubling rollen. Gleichzeitig könnte es zu erheblichen Staus auf der Strecke kommen, wenn die Zahlen der Güterzüge tatsächlich in dem Maße ansteigen, wie es die TunnelBauer in Österreich und Italien prophezeien.
Hintergrund für die derzeit brachliegenden Planungen ist eine Grafik, die Vertreter der Deutschen Bahn im November 2016 den Bürgermeistern im Inntal präsentierten. Auf dieser sind mehrere farblich markierte Korridore zu sehen, in denen sich die Experten der Bahn den Bau der neuen Trasse von Kiefersfelden bis knapp hinter Rosenheim vorstellen könnten. Einer der Korridore führt westlich des Inns, ein anderer östlich, der eine unten an Rosenheim vorbei, der andere oben herum oder mitten hindurch.
Alles noch reichlich unkonkret, sagten die Vertreter der Bahn damals. Für die Bürgermeister östlich des Inns waren die eingezeichneten Korridore jedoch konkret genug. Denn: Während die zwei alten Bahngleise im Landkreis westlich des Inns verlaufen, offenbarte die Grafik, dass die beiden neuen Gleise möglicherweise durch ihr Gebiet laufen könnten. Auf die Gemeinden dort kämen ungewohnter Zuglärm, langjährige Baustellen und gewaltige Einschnitte in die Natur zu.
Der Aufschrei im Osten war dementsprechend groß. Die Gegner formierten sich und gründeten Bürgerinitiativen mit Namen wie „Brenna tuats“. Es folgten Demonstrationen und ein Besuch von Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU), der im März in Rosenheim schließlich verkündete, die Planungen und vor allem die Beteiligung der Bürger müssten auf neue Füße gestellt werden. Ein Debakel wie beim höchst umstrittenen Bahnprojekt „Stuttgart 21“sollte in Bayern vermieden werden.
Seither herrscht Stillstand. Erst Ende des Jahres sollen die Gespräche wieder aufgenommen werden. „Das ist natürlich sehr unbefriedigend. Wir haben dadurch mehr oder weniger ein Jahr verloren“, erzählt Raphael Richter, Projektkoordinator der Deutschen Bahn.
Er sitzt in einem Büro in der Rosenheimer Innenstadt. Ein Raum, ein großer weißer Schreibtisch in der Mitte, mehrere Bildschirme an den Wänden. Auf diesen flimmern allerlei Informationen zum Brenner-Basistunnel und dem sogenannten Nordzulauf, der geplanten neuen Bahntrasse durch das Inntal. Nach dem großen Ärger um die Grafik mit den möglichen Korridoren wurde das Büro Anfang August eröffnet, um verunsicherten Bürgern die Möglichkeit zu geben, sich aus erster Hand über das Projekt in ihrer Region zu informieren. Doch der Ansturm blieb aus. Rund 60 Personen hätten in den ersten sechs Wochen das Büro aufgesucht, sagt Richter enttäuscht.
Fast viermal so viele Menschen haben sich nun in der Halle im schönen Neubeuern versammelt. Die sechs Bürgerinitiativen gegen den Nordzulauf haben zur Podiumsdiskussion geladen und üben am Mikrofon lautstark Kritik. „Wir wollen nicht auf Teufel komm raus Krawall machen. Wenn man uns stichhaltig und nachvollziehbar erklärt, warum das Projekt notwendig ist, dann werden wir das auch akzeptieren“, sagt Martin Schmidt, Chef der Initiative „Bürgerforum Inntal“. Bislang sei das aber nicht ansatzweise der Fall gewesen.
Für ihn und seine Mitstreiter ist der Bau der neuen Gleise durch das Inntal eine „horrende Geldverschwendung“, sagt Schmidt und erntet dafür kräftigen Applaus. Der Güterverkehr auf der Schiene sei in den vergangenen Jahren zurückgegangen und werde sich wegen eines neuen Tunnels am Brenner nicht plötzlich verdoppeln. Und „nur“für einen schnelleren Personenfernverkehr dürfe das schmale Inntal nicht mit einer weiteren Verkehrsader neben Autobahn und bestehender Bahntrasse belastet werden. Zumal die Bürger in der Region von der Schnellstrecke kaum profitierten, da dort keine Haltepunkte eingeplant sind.
Landrat Wolfgang Berthaler sieht das anders und im Nordzulauf eine Chance für das Inntal. Verhindern lasse sich das europa- und bundespolitisch gewollte Mega-Projekt wohl ohnehin nicht. Dann müsse der Landkreis wenigstens gemeinsam für die bestmögliche Lösung kämpfen. Und die liegt seiner Meinung nach unter der Erde. In Österreich sei die Zufahrt zum neuen Brenner-Basistunnel in weiten Teilen unterirdisch gebaut worden. „So etwas in der Art brauchen wir auch. Dann wäre eine neue Trasse eine echte Entlastung für die Bürger und für das Inntal“, sagt Berthaler. Er selbst wohnt in Flintsbach direkt neben der bestehenden Bahnstrecke, die seit 150 Jahren durch das Inntal führt. „Mit einer Billig-Lösung geben wir uns nicht zufrieden. Dann würde auch ich auf die Barrikaden gehen.“
„Das ist auch absoluter Weltrekord.“Konrad Bergmeister,
Tunnel Chef