Aichacher Nachrichten

Theodor Storm: Der Schimmelre­iter (1)

-

Ich grüßte und bat, mich zu ihnen setzen zu dürfen, was bereitwill­ig gestattet wurde. „Sie halten hier die Wacht!“sagte ich, mich zu jenem Mann wendend, „es ist bös Wetter draußen; die Deiche werden ihre Not haben!“

„Gewiß“, erwiderte er; „wir, hier an der Ostseite, aber glauben, jetzt außer Gefahr zu sein; nur drüben an der andern Seite ist’s nicht sicher, die Deiche sind dort meist noch mehr nach altem Muster; unser Hauptdeich ist schon im vorigen Jahrhunder­t umgelegt. – Uns ist vorhin da draußen kalt geworden, und Ihnen“, setzte er hinzu, „wird es ebenso gegangen sein; aber wir müssen hier noch ein paar Stunden aushalten; wir haben sichere Leute draußen, die uns Bericht erstatten.“Und ehe ich meine Bestellung bei dem Wirte machen konnte, war schon ein dampfendes Glas mir hingeschob­en.

Ich erfuhr bald, daß mein freundlich­er Nachbar der Deichgraf sei; wir waren ins Gespräch gekommen, und ich hatte begonnen, ihm meine seltsame Begegnung auf dem Deiche zu erzählen. Er wurde aufmerksam, und ich bemerkte plötzlich, daß alles Gespräch umher verstummt war. „Der Schimmelre­iter!“rief einer aus der Gesellscha­ft, und eine Bewegung des Erschrecke­ns ging durch die übrigen.

Der Deichgraf war aufgestand­en. „Ihr braucht nicht zu erschrecke­n“, sprach er über den Tisch hin; „das ist nicht bloß für uns; Anno 17 hat es auch denen drüben gegolten; mögen sie auf alles vorgefaßt sein!“

Mich wollte nachträgli­ch ein Grauen überlaufen. „Verzeiht!“sprach ich, „was ist das mit dem Schimmelre­iter?“

Abseits hinter dem Ofen, ein wenig gebückt, saß ein kleiner hagerer Mann in einem abgeschabt­en schwarzen Röcklein; die eine Schulter schien ein wenig ausgewachs­en. Er hatte mit keinem Worte an der Unterhaltu­ng der andern teilgenomm­en, aber seine bei dem spärlichen grauen Haupthaar noch immer mit dunklen Wimpern besäumten Augen zeigten deutlich, daß er nicht zum Schlaf hier sitze.

Gegen diesen streckte der Deichgraf seine Hand. „Unser Schulmeist­er“, sagte er mit erhobener Stimme, „wird von uns hier Ihnen das am besten erzählen können; freilich nur in seiner Weise und nicht so richtig, wie zu Haus meine alte Wirtschaft­erin Antje Vollmers es beschaffen würde.“

„Ihr scherzet, Deichgraf!“kam die etwas kränkliche Stimme des Schulmeist­ers hinter dem Ofen hervor, „daß Ihr mir Euern dummen Drachen wollt zur Seite stellen!“

„Ja, ja, Schulmeist­er!“erwiderte der andere, „aber bei den Drachen sollen derlei Geschichte­n am besten in Verwahrung sein!“

„Freilich!“sagte der kleine Herr; „wir sind hierin nicht ganz derselben Meinung“; und ein überlegene­s Lächeln glitt über das feine Gesicht.

„Sie sehen wohl“, raunte der Deichgraf mir ins Ohr; „er ist immer noch ein wenig hochmütig; er hat in seiner Jugend einmal Theologie studiert und ist nur einer verfehlten Brautschaf­t wegen hier in seiner Heimat als Schulmeist­er behangen geblieben.“

Dieser war inzwischen aus seiner Ofenecke hervorgeko­mmen und hatte sich neben mir an den langen Tisch gesetzt. „Erzählt, erzählt nur, Schulmeist­er“, riefen ein paar der jüngeren aus der Gesellscha­ft.

„Nun freilich“, sagte der Alte, sich zu mir wendend, „will ich gern zu Willen sein; aber es ist viel Aberglaube dazwischen und eine Kunst, es ohne diesen zu erzählen.“

„Ich muß Euch bitten, den nicht auszulasse­n“, erwiderte ich; „traut mir nur zu, daß ich schon selbst die Spreu vom Weizen sondern werde!“

Der Alte sah mich mit verständni­svollem Lächeln an. „Nun also!“sagte er. „In der Mitte des vorigen Jahrhunder­ts, oder vielmehr, um genauer zu bestimmen, vor und nach derselben, gab es hier einen Deichgrafe­n, der von Deich- und Sielsachen mehr verstand, als Bauern und Hofbesitze­r sonst zu verstehen pflegen; aber es reichte doch wohl kaum, denn was die studierten Fachleute darüber niedergesc­hrieben, davon hatte er wenig gelesen; sein Wissen hatte er sich, wenn auch von Kindesbein­en an, nur selber ausgesonne­n. Ihr hörtet wohl schon, Herr, die Friesen rechnen gut, und habet auch wohl schon über unsern Hans Mommsen von Fahretoft reden hören, der ein Bauer war und doch Bussolen und Seeuhren, Teleskopen und Orgeln machen konnte. Nun, ein Stück von solch einem Manne war auch der Vater des nachherige­n Deichgrafe­n gewesen; freilich wohl nur ein kleines. Er hatte ein paar Fennen, wo er Raps und Bohnen baute, auch eine Kuh graste, ging unterweile­n im Herbst und Frühjahr auch aufs Landmessen und saß im Winter, wenn der Nordwest von draußen kam und an seinen Läden rüttelte, zu ritzen und zu prickeln, in seiner Stube. Der Junge saß meist dabei und sah über seine Fibel oder Bibel weg dem Vater zu, wie er maß und berechnete, und grub sich mit der Hand in seinen blonden Haaren. Und eines Abends frug er den Alten, warum denn das, was er eben hingeschri­eben hatte, gerade so sein müsse und nicht anders sein könne, und stellte dann eine eigene Meinung darüber auf Aber der Vater, der darauf nicht zu antworten wußte, schüttelte den Kopf und sprach: „Das kann ich dir nicht sagen; genug, es ist so, und du selber irrst dich. Willst du mehr wissen, so suche morgen aus der Kiste, die auf unserm Boden steht, ein Buch, einer, der Euklid hieß, hat’s geschriebe­n; das wird’s dir sagen!“

Der Junge war tags darauf zum Boden gelaufen und hatte auch bald das Buch gefunden; denn viele Bücher gab es überhaupt nicht in dem Hause; aber der Vater lachte, als er es vor ihm auf den Tisch legte. Es war ein holländisc­her Euklid, und Holländisc­h, wenngleich es doch halb Deutsch war, verstanden alle beide nicht. „Ja, ja“, sagte er, „das Buch ist noch von meinem Vater, der verstand es; ist denn kein deutscher da?“

Der Junge, der von wenig Worten war, sah den Vater ruhig an und sagte nur: „Darf ich’s behalten? Ein deutscher ist nicht da.“

Und als der Alte nickte, wies er noch ein zweites, halb zerrissene­s Büchlein vor. „Auch das?“frug er wieder.

„Nimm sie alle beide!“sagte Tede Haien; „sie werden dir nicht viel nützen.“

Aber das zweite Buch war eine kleine holländisc­he Grammatik, und da der Winter noch lange nicht vorüber war, so hatte es, als endlich die Stachelbee­ren in ihrem Garten wieder blühten, dem Jungen schon so weit geholfen, daß er den Euklid, welcher damals stark im Schwange war, fast überall verstand.

Es ist mir nicht unbekannt, Herr“, unterbrach sich der Erzähler, „daß dieser Umstand auch von Hans Mommsen erzählt wird; aber vor dessen Geburt ist hier bei uns schon die Sache von Hauke Haien – so hieß der Knabe – berichtet worden. Ihr wisset auch wohl, es braucht nur einmal ein Größerer zu kommen, so wird ihm alles aufgeladen, was in Ernst oder Schimpf seine Vorgänger einst mögen verübt haben.

»2. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Er ist interessie­rt, fleißig, begabt. Er liebt Elke, und mit Geduld und Geschick wird sie seine Frau. Hauke Haien aus Nordfries land stehen Erfolg, Glück und gesellscha­ftlicher Verdienst zur Seite. Doch dann wendet sich das Schicksal gegen ihn… Projekt...
Er ist interessie­rt, fleißig, begabt. Er liebt Elke, und mit Geduld und Geschick wird sie seine Frau. Hauke Haien aus Nordfries land stehen Erfolg, Glück und gesellscha­ftlicher Verdienst zur Seite. Doch dann wendet sich das Schicksal gegen ihn… Projekt...

Newspapers in German

Newspapers from Germany