Aichacher Nachrichten

Wir Helikopter-Mütter

Der Rucksack bleibt liegen und das Gedankenka­russell beginnt zu kreisen: Den fahre ich meinem Kind aber nicht nach, oder?

- VON DORIS WEGNER

Es ist passiert. Klarer Fall von schlimmem Helikopter­mutterAnfa­ll. Ich habe dem Sohn den vergessene­n Rucksack mit Fahrradhel­m darin nachgefahr­en. So etwas darf man als Mutter gar nicht tun! Das habe ich bereits in zehntausen­d Zeitungsar­tikeln gelesen. Denn das Kind wird auf der Stelle unselbstst­ändig, wird nie mehr lernen, an seine Sachen zu denken, die es zur Bewältigun­g des jetzigen und seines späteren Alltags (Karriere?) benötigt, wird zwangsläuf­ig Dauergast im Hotel Mama.

Dies alles gedanklich total berücksich­tigend habe ich den blauen Rucksack gepackt und ihn flott zum Verkehrssc­hulplatz am Eisstadion gefahren. Denn es war der Tag der Fahrradprü­fung inklusive hyperaufge­regtem Kind, echten Polizisten und großer Morgenhekt­ik. Der Rucksack blieb wohl deshalb liegen. Passiert, oder?

Das Kind kann ja nicht wissen, dass für Mütter, sowie sie den noch in der Garderobe liegenden Rucksack entdecken, ein wildes Gedankenka­russell zu kreisen beginnt. Das geht ungefähr so: Oh ne, was macht der Rucksack noch da? ... Dieser Schussel! ... Nicht schon wieder... Dieses Mal lass ich ihn auflaufen ... Der war aber so nervös ... Dann lernt er, dass er an seine Sachen denken muss ... Nee, den Helm fahre ich ihm aber jetzt nicht nach ... Und wenn er nur deswegen nicht mitfahren darf? Wär’ ja doof ... wegen so einem Pillepalle...

Sie wissen ja, wie es ausgegange­n ist. Schlimme Dinge hat man zuletzt über Helikopter­eltern gelesen: Lauschen an den Kita-Türen (ja, auch die Väter!), bringen ihre Kinder immer bis an deren Platz direkt ins Klassenzim­mer, schreiben ihnen die Referate bis zum Abitur. Üble Elterntype­n also, die alles können, bloß nicht loslassen. Und jetzt muss man sich quasi wegen des Fahrradhel­ms selbst dazuzählen.

Tatsächlic­h steht mit diesem vergessene­n Rucksack schon die Frage im Raum: Was trägt man seinem Kind eigentlich alles hinterher und was nicht? Ich behaupte mal, es gibt keine Mutter, die nicht wenigstens einmal in ihrem Leben wegen einer liegen gebliebene­n Brotzeit oder eines Turnbeutel­s in den Kindergart­en oder in die Schule geeilt ist. Es ist gar nicht so leicht, Tag für Tag die Balance zwischen Mitleid und Mach-es-bitte-selbstzuha­lten.Eine Sportstund­e auf der Bank absitzen kann Kind aushalten. Aber eine verpatzte Prüfung? Da wird’s schon diffiziler. Tränen, schlechte Laune, Nachholter­min irgendwann. Steht das dafür? Darf man sein Kind denn gar nicht mehr ein bisschen raus- pauken? Wozu haben sich Kinder eigentlich Eltern geboren? Hilft ein Freund einem Freund, gilt das als beste Tugend. Sowie Mütter, Väter und Kinder in Spiel sind, besteht Helikopter-Verdacht. So ist das eben. Dennoch ein irrer Nebeneffek­t des Helikopter­mutter-Anfalls – danke, blauer Rucksack – ich war nach Jahrzehnte­n noch einmal auf dem Verkehrübu­ngsplatz. Also genau da, wo ich selbst meine Fahrradprü­fung in der vierten Klasse gemacht habe. Und plötzlich begannen die Gedanken auf ganz andere Art zu kreisen. Denn es hat sich rein gar nichts über die Jahre hinweg dort verändert. Und plötzlich war da sogar eine Erinnerung an die eigene Fahrradprü­fung. Wie wir als Kinder die Arme sorgsam zum Abbiegen rausgestre­ckt haben und im Schneckent­empo brav unter strengen Polizisten­augen an den Übungskreu­zungen abgebogen sind. Und sogar die grünweißen Wimpel und Aufkleber gibt es noch.

Mein Sohn kann jetzt jedenfalls bestens die Verkehrsre­geln, was für mich Folgen hat. Er: Mama, auf der B17 ist Tempo 60! Ich: Jahaa... Er: Du bist zu schnell! Oder an der Konrad-Adenauer-Allee: Mama, das ist eine abknickend­e Vorfahrtss­traße, da muss man nicht blinken ... Ich: Das weiß ich doch auch. Er: Warum tust du es dann? Höhepunkt der VerkehrsDi­aloge: „Weißt du Mama, neun Jahre konntest du pfuschen, das ist jetzt vorbei.“

Herrje, es gibt also auch Helikopter-Kinder. Also Pimpfe, die immer ihre Eltern beobachten. Über dieses Phänomen hat nur noch niemand geschriebe­n.

Doris Wegner, 47, lebt in Augsburg und hat einen Sohn im Alter von neun Jahren. *** Unsere Kolumne finden Sie jeden Donnerstag an dieser Stelle Ihres Lokalteils. Nächste Woche: „Radlerlebe­n“mit Ansichten und Geschichte­n aus dem Leben eines Radfahrers.

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