Wie die EU in der Flüchtlingskrise versagt
Barbara Lochbihler, grüne Europa-Abgeordnete aus dem Allgäu, besuchte das umstrittene Auffanglager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Die Politikerin erklärt, warum die Lage dort dramatisch ist
Frau Lochbihler, Sie haben als EUAbgeordnete am Samstag das griechische Auffanglager Moria auf Lesbos besichtigt. Wurden Sie bei Ihrem Besuch durch die Behörden unterstützt? Barbara Lochbihler: Eigentlich wollte ich mich in dem Hotspot Moria unabhängig bewegen. Aber das war nicht möglich. Der Direktor hat mich empfangen und durch die Anlage geführt. Dennoch konnte ich mir einen Überblick verschaffen.
Wie viele Flüchtlinge leben dort? Lochbihler: Moria ist für höchstens 2000 Personen ausgelegt. Im Oktober lebten dort 2200 Männer, Frauen und Kinder. Jetzt sind es bereits über 6000! Pro Tag kommen im Schnitt rund 200 Menschen an.
Seit Monaten gibt es Meldungen, dass die Lage der Flüchtlinge in Griechenland – insbesondere auf den Inseln Lesbos und Samos – katastrophal ist. Lochbihler: Die Situation ist in der Tat dramatisch. Moria wurde als Registrierungslager eingerichtet. Doch nicht wenige befinden sich dort bereits seit 18 Monaten.
Wo konkret liegen die Probleme? Lochbihler: Es fehlen feste Unterkünfte. Etwa 1500 Menschen leben in Zelten, die nicht beheizbar sind. Die Überfüllung ist natürlich ein großes Problem. Doch nicht zu ent- schuldigen ist, dass es an einem Plan dafür fehlt, beheizbare Alternativen zu Zelten zu schaffen. Zuletzt kamen viele Kinder im Vorschulalter – für sie stellt die Kälte eine große Gefahr dar.
Wie ist die hygienische Situation? Lochbihler: Verheerend. Es gibt viel zu wenige Duschen und Toiletten. Sie nachts aufzusuchen, ist vor allem für Frauen gefährlich. Um ihnen dies nicht zuzumuten, werden sogar Windeln für Erwachsene verteilt. Die medizinische Versorgung ist ebenfalls nicht gut. Aber es hapert auch an alltäglichen Dingen. Für das Frühstück am Morgen müssen sich die Flüchtlinge zum Teil mehrere Stunden anstellen. Hinzu kommt, dass die Aggressionen zwischen nationalen Gruppen zunehmen, unter anderem, weil nach den neuen rechtlichen Regelungen schon allein die Herkunft über den Status im Verfahren entscheidet.
Die EU hat hunderte Millionen versprochen, um die Situation zu verbessern. Zeigt die Hilfe keine Wirkung? Lochbihler: Es sind 1,2 Milliarden Euro für die fünf Hotspots nach Griechenland geflossen. Die griechische Regierung hat angekündigt, dass bessere Unterkünfte gebaut würden. Allerdings habe ich schnell gelernt, dass eine Zusammenarbeit zwischen dem Staat und den Kommunen in Griechenland kaum stattfindet. Gleichzeitig macht die Regierung den an der Flüchtlingshilfe beteiligten Nichtregierungsorganisationen, die einen Teil des EU-Geldes bekommen haben, den Vorwurf, ihre Zusagen nicht einzuhalten. Transparent ist dies alles nicht.
Haben Sie den Eindruck, dass die schlechten Bedingungen ganz bewusst in Kauf genommen werden, um potenzielle Flüchtlinge abzuschrecken? Lochbihler: Sicher werden nicht Kältetote bewusst in Kauf genommen. Offensichtlich ist aber, dass verhindert werden soll, dass die Menschen in ihre Heimatländer kommunizieren, dass die Lage in Griechenland für Flüchtlinge gut ist. Nicht nur Athen, sondern auch die EU setzen auf einen Abschreckungseffekt.
Registrierungslager wie Moria sollten ja nur eine Durchgangsstation für die Flüchtlinge sein. Warum wird der Hotspot für viele zur Sackgasse? Lochbihler: Hotspots wie Moria sind dazu da, dass dort geprüft wird, ob ein Asylverfahren eingeleitet wird oder sie nach dem EU-Türkei-Deal zurück in die Türkei müssen. Doch diese Prüfung, die von der europäischen Asylagentur EASO durchgeführt wird, dauert lange und ist nach der Erfahrung von Juristen vor Ort fachlich oft fragwürdig. So wird viel zu wenig nachgefragt, ob die Menschen auf der Flucht beispielsweise vergewaltigt oder anderweitig misshandelt wurden. Dann nämlich liegt eine sogenannte besondere Verletzlichkeit vor. Diese Personen könnten dann aufs Festland umsiedeln. Das würde die Hotspots sofort entlasten. Alle hoffen darauf, auf das griechische Festland gebracht zu werden und von dort vielleicht weiter auf EU-Länder verteilt zu werden. Ganz grundsätzlich ist aber doch zu beobachten, dass die Bereitschaft der EU-Mitgliedstaaten, Flüchtlinge aufzunehmen, weiter sinkt.
Lochbihler: Das ist leider richtig. Wir brauchen mehr Solidarität und vielleicht auch mehr Anreize bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Griechenland soll ja ein Puffer sein, um Flüchtlinge, die eine Chance auf Asyl haben, geordnet zu verteilen. Doch wenn immer mehr EU-Länder sich weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, nutzt auch der Puffer nichts.
„Ich frage mich, wie solch ein Lager in einem Kriegs land wie Libyen aussehen soll?“
Barbara Lochbihler
Es gibt ja auch Bestrebungen, Hotspots in Libyen zu errichten.
Lochbihler: Ich frage mich, wie solch ein Lager in einem Kriegsland wie Libyen aussehen soll, wenn die Zustände schon in einem Hotspot in einem EU-Rechtsstaat wie Griechenland so dramatisch sind.
Ist also keine Lösung in Sicht?
Lochbihler: Wir brauchen eine funktionierende, geordnete Verteilung. Dafür gibt es durchaus Kapazitäten – insbesondere auch in Ländern wie Deutschland oder Frankreich. Wer sich komplett verweigert, wie einige osteuropäische Länder, muss die Konsequenzen zu spüren bekommen. Eine Abkehr von humanitärer Flüchtlingspolitik würde Deutschland nicht zum Positiven verändern. Eine komplette Abschottung ist ohnehin unmöglich. Von dieser Illusion sollte sich die Politik verabschieden. Interview: Simon Kaminski
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Barbara Lochbihler ist seit 2009 Abgeordnete für die Grünen im Euro päischen Parlament. Die 58 jährige All gäuerin fungiert dort als Vizepräsiden tin des EU Menschenrechtsausschusses. Von 1999 bis 2009 war sie Generalse kretärin der deutschen Sektion von Amnesty International.