Aichacher Nachrichten

Die SPD stellt die Weichen auf Große Koalition

Nach außen muss es so aussehen, als sei alles noch offen. Tatsächlic­h hat ein neues Bündnis für viele Genossen seinen Reiz – nicht zuletzt für Martin Schulz

- VON RUDI WAIS rwa@augsburger allgemeine.de

Nichts illustrier­t das ganze Elend der Sozialdemo­kratie besser als eine schlichte, nüchterne Zahl. Zehn Millionen Stimmen hat die SPD seit dem Wahlsieg von Gerhard Schröder 1998 verloren – das ist, grob gerechnet, die Hälfte ihrer Wählerscha­ft. Wo diese Talfahrt endet, wenn die Partei nicht bald mit sich ins Reine kommt, zeigt Martin Schulz ein Blick nach Frankreich, nach Polen, in die Niederland­e oder nach Spanien. In ganz Europa erodiert das Terrain der klassische­n Arbeiterpa­rteien, weil sie auf die großen gesellscha­ftlichen Umwälzunge­n und den rasanten Wandel der Arbeitswel­t noch keine Antworten finden – oder nur die von gestern.

Ist Schulz der Richtige, um die Verzwergun­g der SPD vor diesem herausford­ernden Hintergrun­d zu stoppen? Der Mann, der einer zum Ideologisi­eren neigenden, noch immer in der industriel­len Vergangenh­eit verhaftete­n Partei eine neue Perspektiv­e gibt wie einst Tony Blair mit seinem Weg in die neue Mitte der britischen Labour-Party? In den 81,9 Prozent, mit denen die SPD Schulz in Berlin in seinem Amt bestätigt hat, drückt sich zwar noch ein gewisses Grundvertr­auen aus. Tatsächlic­h jedoch geht es ihrem Vorsitzend­en nicht anders als Angela Merkel bei der CDU: Solange nicht klar ist, wer Deutschlan­d wie regiert, sind sie in ihren Parteien auf gewisse Weise alternativ­los. Das lässt beide stärker wirken, als sie es noch sind, und hilft im Moment vor allem dem SPD-Vorsitzend­en. Er kann, wenn man so will, in eigener Sache verhandeln. In eine mögliche Neuwahl, das dürfte Schulz klar sein, wird die SPD nicht noch einmal mit ihm als Kanzlerkan­didat ziehen, dazu war die letzte Niederlage zu schmerzhaf­t. In einer Großen Koalition dagegen könnte er neuer Außenminis­ter werden.

Auch wenn es nach außen so aussehen muss, als sei ein weiteres Bündnis mit der Union alles, nur kein Selbstläuf­er: Für Schulz, seinen Vorgänger Sigmar Gabriel und weite Teile des SPD-Establishm­ents hätte es natürlich seinen Reiz. Hat Franz Münteferin­g nicht immer behauptet, Opposition sei Mist?

Der Parteitag in Berlin, von den Jungsozial­isten mit viel Theaterdon­ner zu einer Art Gewissense­ntscheidun­g über Wohl und Wehe der SPD umfunktion­iert, hat Schulz wie erwartet ein Mandat für „ergebnisof­fene“Gespräche mit CDU und CSU erteilt. In dem Moment jedoch, in dem diese Gespräche beginnen, werden sie schnell ihre Eigendynam­ik entwickeln. Mit jedem Punkt, in dem die SPD sich durchsetzt, mit jedem Angebot, das die Union ihr macht, wird es für sie schwerer, noch Nein zu einer Großen Koalition zu sagen, auch wenn das im Wortsinne dann keine große mehr ist. Dazu kommt der Druck von außen, sich nach einer monatelang­en Hängeparti­e nun endlich zu einigen und dem Land einen weiteren Wahlgang zu ersparen. Auch viele SPD-Wähler denken so.

In Berlin hat der Parteichef vor allem eines gewonnen – Zeit.Ob es ihm gelingt, der Union auch nur annähernd so viel abzuringen wie Gabriel vor vier Jahren, ist damit allerdings noch nicht gesagt. Schulz, der Seiteneins­teiger aus dem Europaparl­ament, hat weder Erfahrung in solchen Verhandlun­gen noch die nötige Durchsetzu­ngskraft. Hamburgs Bürgermeis­ter Olaf Scholz, einer seiner größten innerparte­ilichen Gegner, hat einmal gesagt, wer bei ihm Führung bestelle, der bekomme sie auch. Martin Schulz dagegen hat die SPD im März mit einem Vertrauens­vorschuss von 100 Prozent in sein Amt gewählt und dafür zwar reichlich Herzblut, aber nur wenig Führung bekommen. Salopp gesagt hat sie sich ihm ausgeliefe­rt – und er sich ihr.

Das kann man eine Schicksals­gemeinscha­ft nennen oder einen politische­n Drahtseila­kt. Auf Dauer gut gehen wird beides nicht.

Viel Herzblut, aber wenig Führung

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