Was ein Aichacher aus dem Sudetenland und ein Pöttmeser zum Thema Heimat sagen Aichach ist ihm zur Heimat geworden
Der 96-jährige Gerhard Roch senior stammt aus dem Sudetenland. Die Vertreibung 1945 verschlug ihn mit Frau und Kind an die Paar. Dort hat es die junge Familie geschafft, sich eine neue Existenz aufzubauen. Wenn er zurückblickt, ist er heute für vieles dan
Aichach Gerhard Roch ist kein rückwärtsgewandter Mensch. Er blickt lieber nach vorn. Von Aichach spricht der 96-Jährige, der aus dem Sudetenland, aus Schlesien, stammt, deshalb nicht als von seiner „zweiten Heimat“. Er sagt: „Aichach ist meine Heimat.“Geboren wurde er am 28. Februar 1921 in Wiese (heute Louc˘ky in der Tschechischen Republik), einem Ortsteil von Seifersdorf (Zátor) im Kreis Jägerndorf im Sudetenland. Dort ist er mit einem jüngeren Bruder und – nach dem Tod seiner Tante – deren drei Kindern aufgewachsen. Sein Elternhaus stand direkt an der Oppa. Es wurde später bei einem Hochwasser zerstört. In Rochs Kindheit habe es auf der gestauten Oppa im Winter eine Eisbahn gegeben, auf der sich Groß und Klein vergnügten, erinnert er sich.
Roch war ein guter Schüler. „Ich sollte eigentlich aufs Gymnasium gehen“, erzählt er. Sein Großvater war dagegen, und so arbeitete er im Friseursalon der Familie.
Gleich nach Beginn des Zweiten Weltkriegs kam der gerade 18-jährige Roch zum Militär. „Mein Traum wäre es gewesen, in Friedenszeiten zur Marine zu gehen“, erzählt er. „Ich wollte die Welt sehen.“1940 wurde er tatsächlich zur Marine versetzt. Gekommen ist er nur ins Eismeer und in den finnischen Meerbusen. Das Kriegsende erlebte er in Kiel.
Als britischer Kriegsgefangener war er bei Husum interniert, bis im Juli 1946 die ersten Transporte mit Vertriebenen aus dem Sudetenland in München ankamen. Roch wurde, gerade in München angekommen, mit in einen Transport aus Troppau gesteckt. „So kam ich nach Aichach“, erzählt Roch. Jeden Tag seien damals Transporte mit 1200 Menschen in Augsburg angekommen, erzählt er. „Die mussten bis zum nächsten Tag untergebracht werden.“Sie wurden bei den Einheimi- schen einquartiert. Willkommen waren sie nicht. Roch hat dafür Verständnis.
Seine Frau Maria, die er im Januar 1943 geheiratet hatte, und der dreijährige Sohn Peter kamen nach Memmingen. Dort holte Roch sie ab, „weil ich in Aichach schon ein Zimmer hatte“. Roch fand auch schnell Arbeit. Weil er keine Papiere hatte, musste er sich im Aichacher Rathaus melden. Als der Verwaltungschef hörte, dass er Friseur war, war er begeistert. Sein Schwiegersohn brauchte in seinem Salon dringend Hilfe. 1947 wurde Sohn Gerhard geboren.
Roch, der im Krieg verwundet worden war, wurde allerdings bald schwer krank. „Meine Frau ist zum Stadtpfarrer gegangen wegen Brot und Butter“, erinnert er sich. „Wir haben nichts zum Brennen gehabt. Die Kinder haben geweint vor Kälte.“Er erstritt seine Rente, machte den Führerschein und besuchte die höhere Handelsschule. Ab 1956 arbeitete er im Außendienst für eine Firma für Friseurartikel. „Da hab ich dann gut verdient“, sagt er.
Stolz ist er vor allem auf eines: „Ich hab’s dann doch geschafft, dass aus den Kindern was geworden ist.“Sohn Peter, der bereits verstorben ist, wurde Lehrer für Mathematik, Physik und Informatik an der Wittelsbacher Realschule in Aichach. Gerhard junior leitete lange Jahre das Ordnungsamt der Stadt Aichach. Er selbst engagierte sich bald beim Ball-Club Aichach (BCA), in der Schachabteilung, deren Ehrenaber mitglied er ist. Besonders gern denkt er an die Länderkämpfe im Schach zwischen Bayern und Serbien zurück, die 1976 und 1981 in Aichach ausgetragen wurden. Schach spielt er heute noch. 1989 starb seine Frau Maria. Später zog Roch zu seiner neuen Lebensgefährtin nach Königsbrunn. 2012 starb auch sie, und er kehrte nach Aichach zurück. Seitdem wohnt er im Spital, genießt die Nähe der Familie, die Besuche der Urenkel. Wie vielseitig er interessiert ist, zeigt ein Blick auf seine Bücher, wo unter anderem die Bibel neben dem Koran und der Thora steht. Aufmerksam verfolgt das Geschehen in der großen wie in der kleinen Politik. Davon zeugen auch seine Leserbriefe, in der gern seinen Lieblingsautor Eugen Roth zitiert, dessen humorvolle Weltsicht er teilt.
Rückblickend sagt Roch: „Das war schon eine Leistung, wie wir aufgenommen wurden damals.“14 Millionen Vertriebene seien damals gekommen. In Aichach sei die Familie sehr gut aufgenommen worden. „Mir haben alle geholfen.“Mal mit Kohle oder ein bisschen Holz, mal mit einem Kinderwagen oder einem Ofen. „Es waren großartige Leute“, sagt Roch. „Für mich ist Heimat dort, wo es einem gut geht, wo man aufgenommen wird und wo man integriert ist.“Wiese ist für ihn „verlorene Heimat. Das ist vorbei“. Wehmut empfindet er deshalb nicht. „Für mich ist es keine Vertreibung, sondern das Entrinnen aus Not und Leid.“Die Aichacher, auch die Geschäftsleute, seien immer hilfsbereit gewesen. „Ich bin froh, dass wir diese Heimat haben.“