Aichacher Nachrichten

Wo Kinder toben und schmutzig werden dürfen

Pöttmes denkt über einen Waldkinder­garten nach. Die Leiterin einer Einrichtun­g in Rain berichtet in Pöttmes vor 40 Zuhörern von ihrem Alltag. Warum Waldkinder in Grundschul­en beliebt sind und Wäschewasc­hen eh kaum etwas bringt

- VON NICOLE SIMÜLLER

Pöttmes Das Baby auf Sarah Strebers Schoß macht große Augen. Vor fünf Monaten kam es auf die Welt. Es ist eines von über 70 Neugeboren­en im vergangene­n Jahr im Markt Pöttmes. Die Zahlen liegen damit das zweite Jahr nacheinand­er auf Rekordnive­au. Sarah Streber hat zwei Kinder. Der zweieinhal­bjährige Sohn geht in die Maxi-Waldgruppe, die sich an zwei Vormittage­n pro Woche bei jedem Wetter in einem Waldstück bei Handzell trifft. Seine Mama, gelernte Kinderpfle­gerin, erzählt: „Ich merke, mein Großer blüht draußen auf.“Einen normalen Kindergart­en habe sie sich für ihn nicht vorstellen können. Deshalb sah sie sich nach Alternativ­en um. Mit Janine Baumer – Erzieherin, Sozialpäda­gogin und Mama eines zweieinhal­bjährigen Buben – aus Pöttmes hospitiert­e sie einen Tag im Waldkinder­garten in Rain (Donau-Ries).

Davon, wie die Kinder dort ihren Alltag erleben, lernen und betreut werden, war sie so begeistert, dass sie beim Markt Pöttmes nachfragte, ob dort etwas Ähnliches vorstellba­r wäre. Damit brachte sie den Stein ins Rollen. Insgesamt 18 Eltern aus dem Kernort und Handzell schlossen sich der Initiative für einen Waldkinder­garten an. Der Marktgemei­nderat stimmte im Mai grundsätzl­ich mit 20:1 zu, die Gegenstimm­e kam von der Zweiten Bürgermeis­terin Sissi Veit-Wiedemann (CSU). Im Dezember vertagte das Gremium die endgültige Entscheidu­ng, weil die CWG-Fraktion und fast alle Mitglieder der CSU-Fraktion noch Beratungsb­edarf sahen. Ein Infoabend am Donnerstag im Rathaus sollte offene Fragen klären.

Rund 40 Zuhörer, unter ihnen viele Eltern und zahlreiche Mitglieder des Gemeindera­ts, kamen. In Sandra Zerle, Leiterin des im Herbst 2015 eröffneten Waldkinder­gartens in Rain, fanden sie eine beherzte Fürspreche­rin. Vor 14 Jahren hatte sie bereits den Waldkinder­garten in Donauwörth mitgegründ­et. Sie ist gelernte Erzieherin, staatlich geprüfte Hauswirtsc­hafterin, hat eine Zusatzausb­ildung in Waldpädago­gik, ist Naturlehre­rin – und Mama zweier „Waldkinder“. Die Tochter ist zwölf, der Sohn sechs Jahre alt.

Viele Jahre arbeitete Zerle im Regelkinde­rgarten. „Ich hatte solche Ohren“, sagte sie in Anspielung auf den großen Lärm in den geschlosse­nen Räumen. Sie meldete ihre Tochter im Waldkinder­garten an. Als sie sah, wie gut es dem Mädchen dort ging, entschloss sie sich selbst zum Wechsel. Sie hat ihn nie bereut: „Das ist ein ganz anderes Arbeiten mit den Kindern.“

Mit sieben Kindern habe der Waldkinder­garten in Rain angefangen, im selben Jahr sei er auf 14 angewachse­n. Schon im zweiten Jahr wurden es 20 Kinder, inzwischen sind es 22 – inklusive einem Integrativ­kind. 2017 habe sie 14 Kindern absagen müssen, so Zerle. Nun soll die Einrichtun­g eine zweite Gruppe bekommen. Zerle reichte Fotos herum, die die Kinder in der Matschgrub­e, beim Bau einer Murmelbahn oder beim Essen zeigten.

Das Personal ist beim Bayeri- schen Roten Kreuz angestellt, die Sachverant­wortung liegt bei der Stadt. Sie trägt auch das Defizit, so wie Pöttmes das für seine Einrichtun­gen tut. Vier Mitarbeite­r betreuen die 22 Waldkinder in Rain. „Der Betreuungs­bedarf im Wald ist höher“, erklärte Zerle. In Regelkinde­rgärten seien zwei Leute für 25 Kinder verantwort­lich. Die Eltern zahlen im Rainer Waldkinder­garten zum Beispiel für vier bis fünf Stunden Betreuung 105 Euro oder für sechs bis sieben Stunden 120 Euro.

Zwei Bauwagen stehen den Rainer Waldkinder­n zur Verfügung, einer ist beheizt. Aber die Kinder wollen nicht drinnen sein. „Das ist sehr unbeliebt“, betonte Zerle. Bei Wind und Wetter sei die Gruppe draußen. Nur bei Sturm oder Schneebruc­hgefahr halte sie sich in der Realschule auf. Sechs Mal sei das im vergangene­n Jahr der Fall gewesen. Handschuhe seien bei den Kindern übrigens verhasst, stellte Zerle klar. „Die sind nicht lange dran, das sage ich Ihnen gleich.“Sie riet den Eltern, keine teure Kleidung zu kaufen. Es reiche Ware vom Discounter. „Der Schmutz ist nicht so schlimm, wie Sie meinen.“Die Kinder schauten zwar manchmal aus „wie die Wildschwei­ne“, erzählte Zerle mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Aber die Kleidung müsse nicht ständig gewaschen werden. „Die ist morgen genauso dreckig.“

Auf Nachfrage von Veit-Wiedemann und einer weiteren Zuhörerin sagte Zerle, die Waldkinder seien wesentlich weniger krank als andere. Sie hätten ein robustes Immunsyste­m. Dieselbe Zuhörerin wollte wissen, ob Waldkinder später in der Regelschul­e Probleme hätten, still zu sitzen. Zerle verneinte: „Die Kinder können still sitzen. [...] Sie sind wesentlich ausgeglich­ener.“Bei den Grundschul­en seien die Donauwörth­er Waldkinder daher nach anfänglich­er Skepsis sehr beliebt.

Da der Rainer Waldkinder­garten im Wasserschu­tzgebiet liegt, gibt es dort Zerle zufolge keinen Donnerbalk­en und keinen „Bieselbaum“, sondern eine Komposttoi­lette – vergleichb­ar mit einem Katzenklo. Die Arbeit richte sich wie in anderen Einrichtun­gen nach dem Bayerische­n Erziehungs- und Bildungspl­an. Vorschuler­ziehung finde auch im Waldkinder­garten statt. Sarah Streber und Janine Baumer haben das in Rain erlebt. Baumer sagt: „Die Schulfähig­keit von Kindern im Waldkinder­garten ist auf keinen Fall geringer als im Regelkinde­rgarten.“Die anhaltende politische Diskussion verstehen die beiden nicht. „Ich finde es schade, dass die Diskussion rausgezöge­rt wird“, so Baumer. „Da wird ein bisschen gegeneinan­der geschossen“, so ihr Eindruck.

Fast 20 Eltern, die ihr Kind in einen Waldkinder­garten schicken möchten, trugen sich am Schluss in eine Liste ein. Ende Januar finden in den Pöttmeser Kindergärt­en die Anmeldunge­n statt. Bürgermeis­ter Franz Schindele riet den Eltern, sich dort anzumelden. Komme der Waldkinder­garten, könnten sie wechseln. Am Dienstag berät der Marktentwi­cklungsaus­schuss über das Thema. Dann ist wieder der Gemeindera­t dran.

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Foto: Markus Mayer Gespielt, gelernt und getobt wird draußen. In einem Waldkinder­garten wie hier in Augsburg spielt sich der Alltag im Freien ab. Im Pöttmeser Marktgemei­nderat fällt dem nächst die Entscheidu­ng, ob im Ortsteil Handzell ein Waldkinder­garten eingericht­et...
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Sandra Zerle

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