Spurenleserin in vagem Gelände Esther Kinsky Wahrnehmen, beschreiben, sich erinnern: Eine Italienreise als Verlusterfahrung
gelesen! Kinsky treibt durch die Landschaften eines fremden Italiens, ihre Beschreibungswut wirkt manchmal wie eine Beschwörung, mit der sie sich erdet, um nicht zu verschwinden, sich nicht aufzulösen im Nichts. „Ich stand Stunden am Fenster wie in einer Glocke, die sich über mich gestülpt hatte und mich in die Kindheit versetzte, als ich mich nachmittags und abends oft unfähig fühlte, etwas anderes zu tun, als aus dem Fenster zu sehen.“
In drei Teilen, die aus insgesamt 60 kurzen, nur wenige Seiten langen Kapiteln (stets mit nur einem Wort betitelt) gefügt sind, erkundet Esther Kinsky die sichtbare Welt und erschließt sich ihre Umgebung. Am ehesten bewegt von Handlung, im Ton auch lichter, ist der mittlere Teil, in dem Kinsky sich an die vielen prägenden Italienreisen ihrer Kindheit mit der Familie erinnert – Spiegelungen zu heutigen Erfahrungen bei der Rückkehr an diese Orte.
Über das Beschreiben findet Esther Kinsky Halt und Selbstvergewisserung. Vergänglichkeit, Tod, die Rätsel der Erinnerung – darüber denkt die wandernde Alleinreisende nach. „Belichtete Filmrollen vor der Entwicklung blieben immer ein zerbrechliches Geheimnis, als sähe man noch unbekannte Träume in lauter identischen Hüllen aufgereiht.“Sie widmet sich dem Wetter, beschreibt die Feuer von Olivenbaumschnittgut, die Dorfläden, die Geräusche, die Berge in der Ferne, das Licht.
Wie schon in ihrem Meisterwerk „Am Fluss“, in dem sie Aufzeichnungen ihrer Exkursionen am River Lea im Osten Londons zu einem Sprachereignis komponiert hat, gelingt es Esther Kinsky auch in „Hain“, profane Motive und Beobachtungen aufzuladen mit einer Wortmagie, die am Gewöhnlichen wächst. Wieder, wie in London und später auf der Krim, ist auch das „Gelände“in Kinskys neuem Buch nicht lieblich einladend, sondern so wie die Salinen, durch die sie wandert – eine abweisende Gegend, in der es nichts „Erhabenes“gibt.
Die Sensibilität, mit der diese Sprachartistin und Spurenleserin die Brachen der Welt abtastet, prägt den „Geländeroman“, der auch ein Logbuch der Erkundungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Leben und Tod ist. Einmal fährt die Autorin über Land. „Alles war Passage. Die müden Reisenden im Bus kamen alle von irgendwoher und wollten irgendwohin, weil sie Menschen waren, wie es in einem Buch heißt.“Michael Schreiner Esther Kinsky: Hain – Geländeroman Suhrkamp, 287 S., 24 ¤