Adalbert Stifter: Prokopus (14)
Unten, im Gasthof Fichtau, ist die Welt der Wirtsfamilie in bester Ordnung – und seit Generationen gepflegt. Aber oben, auf der Burg Rothenstein, wo das sehr junge adlige Paar Prokopus und Gertraud Einzug halten, setzt trotz Kinder segen eine Entfremdung ein … © Projekt Gutenberg
Der Vater selber beredete den Vormund, seine Einwilligung zu geben. Der finstere Flerenz von den Tennen legte eine Vormundschaftsrechnung über die Zeit seiner Amtsführung ab, welche alle Erwartungen bei weitem übertraf, dann ward Prokopus für volljährig erklärt.
Wenige Wochen darauf hielt er sein Vermählungsfest auf dem Stauenfels, bei welchem Bernhard Vaterstelle vertrat, und führte dann die Braut voll Freude und Vergnügen auf den von ihr noch mit keinem Auge gesehenen Rothenstein, wie wir es im vorigen Abschnitte schilderten und wo sie sich auf dem Balkone bei dem Scheine der Sterne an die Herzen drückten.
Die Zeit zwischen der Volljährigkeitserklärung und der Vermählung wurde von Prokop zu lauter Vorbereitungen zu dem Feste verwendet, und da, wie wir sagten, alle frühere Vergangenheit sehr einförmig und in Abhängigkeit verflossen ist, so mußten die Gleise für die Zukunft, wie wir es bemerkten, noch nicht fertig sein und erst neue gemacht werden.
Das erste, was Prokopus tat, da die Festtagsgäste entschwunden waren, bestand darin, daß er Gertraud in allen Teilen seiner und nun auch ihrer Besitzungen herumführte und sie ihr zeigte und daß er daranging, diese Besitzungen zu verwalten und zu regeln.
Des Morgens nach der ersten Nacht, als die jugendliche Herrin die sanften grünseidenen Vorhänge von den Fenstern ihres Schlafgemaches zurückgeschoben hatte, bewahrheitete sich die Aussage ihres Gatten, und ein schöner Ring sanfter, wunderbarer Ferne lag um ihren Berg herum, der mit seiner frischen, herrschenden Grüne auf das holde Dämmern und Duften des unendlichen übrigen Landes wie ein König hinaussah.
Schwalben kreuzten sich wie in der blauen Luft dahinschießende Funken, und in den entfernteren, hinabziehenden Gebüschen er- scholl ein Freudenlärmen von singenden Vögeln, da sie den einen Fensterflügel für hereinströmende Luft geöffnet hatte; denn in dem Rothensteine war es seit Jahren Gesetz, daß auf dem Berge kein einziger Singvogel getötet oder verfolgt werden dürfe. Da Prokopus hatte nachfragen lassen, ob seine Gattin schon angekleidet sei, und solches bejaht wurde, holte er sie ab und führte sie zu den Gästen, um ihnen Aufmerksamkeit zu beweisen. Dies geschah an jedem Tage, solange noch einige da waren.
Als endlich Gatte und Gattin ihrem eigenen Ermessen überlassen waren, den Tag einzuteilen, wie sie wollten, ging Prokopus daran, ihr künftiges Eigentum darzustellen. Erzeigte ihr den ganzen Altbau in allen seinen Räumen. Von dem großen Saale mit den Wandgemälden angefangen durch alle Gemächer und Gänge, durch ihre eigenen Wohnungen, durch den Balkonsaal, vor welchem noch die aufgerichtete Samtnische prangte, durch die Kapelle, durch die Pfarrerswohnung, ja durch alle Zimmer, in welchen Dienerschaft oder Gäste untergebracht werden konnten, führte er sie hindurch.
Da sie durch die Eisenpforten eines Saales hinaustraten, öffnete sich ein sonderbarer Anblick. Das an den Saal stoßende Getäfel des Fußbodens, das Marmor war, hatte keine Decke über sich als den Himmel, und durch die Fenster des Zimmers schaute ebenfalls der Himmel herein.
Das daranstoßende Gemach und die folgenden waren ebenfalls in dem nämlichen Zustande, dann kamen Mauertrümmer, Bogenstücke, Simse und Schutt, über dessen Böschung eine notdürftig vorgerichtete Treppe hinab ins Ebene führte. Es war dies der älteste Bau, an den man, gegen den Eichenhain vorschreitend, den neuen angestoßen hatte und der nun in Trümmern lag. Prokopus leitete seine Gattin die Treppe hinab in den alten Garten, der wieder zur Pfirsichzucht und anderem hergerichtet worden war und seltsam zwischen zwei Bogengängen fortlief, in deren obern Hallen sich bereits die Zweige der wuchernden Bergbäume, des Ahorns und der Ulme, hinein erstreckten. Prokopus führte seine Gattin auf dem wohlausgetretenen Wege, der in der Mitte des Gartens hinlief, bis zu dem Ende, an dem der große tote Stein lag.
Er öffnete die äußere Pforte des Felsentores; er öffnete mit den zwei kleinen Stahlschlüsseln, die er im Samtfache mit sich trug, die innere und führte Gertraud in den roten Saal, welcher unterirdisch in Felsen gehauen war, in welchen sie als eine Angehörige des Berges hinein durfte und in welchem nach der Stiftung des alten Hanns von Scharnast die Lebenserzählungen sämtlicher Burgbesitzer lagen, daß sie von jedem neuen gelesen und mit der seinigen vermehrt würden. In Prokops Nische befanden sich erst einige wenige unbedeutende Blätter. Ach, es sollten schon noch mehrere und düster schmerzliche hinzukommen. Das Licht von oben fiel durch die Kuppel einsam und ruhig an den im Sechseck gestellten Wänden auf den Boden hernieder und bestreifte im Vorbeigleiten die Stahltürchen und Goldbuchstaben zu den Nischen, in denen die Beschreibungen waren. Gertraud hatte in diesem Saale kein einziges – nicht ein Sterbenswörtchen gesagt.
Ihr Gatte führte sie neben dem roten Steine auch in den Kirchhof des Berges, auf dessen Stille die Wipfel der Lindenallee, die zu ihm führte, die grünen Wände des Eichenwaldes und die grauen Schutthügel des Altbaues hereinsahen. Sie gingen über das glatte grüne Feld mit den Gefühlen ganz junger Leute hin, für welche dieser Platz gleichsam gar nicht gemacht ist, und betrachteten das weiße Kreuz, das mitten auf dem gleichartigen Rasen von vier Linden umgeben stand. Prokopus führte Gertraud auch in den Sixtusbau, der glatt und fest von gehauenem Steine aufgeführt, als sei er von Eisen, hinter dem Eichenwalde stand und die Klausur der einstigen Burgfrau Hermenegild, der Gattin des Kreuzfahrers Ubaldus, die nach dem Tode ihres Mannes Nonne geworden war, dann mehrere Prunk- und Wohngemächer früherer Geschlechter und endlich den grünen Saal enthielt, in welchem alle Angehörigen des Berges in Lebensgröße gemalt waren. Gertraud sah alle Männer dieses Schlosses bis auf Prokopus herab, der noch fehlte, in Harnischen dastehen oder sich an Tische lehnen oder in reichen Sesseln sitzen. Sie sah alle Frauen und Jungfrauen in den fortschreitenden Veränderungen ihrer Gewänder, die oft wunderbar und zierlich genug waren.
Sie betrachtete die nächsten, leeren Nischen, in welche Prokopus und ihr Bild und vielleicht die Bilder derer kommen könnten, die den Kreis von zweien zu einem von vielen zu erweitern bestimmt waren. Jetzt standen sie nur erst zwei da, und in dem ungeheuren Saale, in welchem die Reihen von Männern und Frauen hinab glänzten, in welchem der glatte Serpentin und die Lichter und Hellpunkte der Gemälde durch hereingehende Tagfluten funkelten, erschienen sie klein und beinahe unscheinbar.
»15. Fortsetzung folgt