Die „steinreiche“Unbekannte
Der größte Schatz der Balearen-Insel ist die Natur. Vielleicht ist der fehlende Massentourismus gar nicht so schlecht
Links, rechts, links, rechts – ist doch eigentlich ganz einfach für die Vorderfrau und den Hintermann: Wenn die Paddel auf derselben Seite des Kajaks gleichzeitig eingetaucht, lange nach hinten gezogen werden und die Paddelblätter möglichst viel Meerwasser verdrängen, dann geht es prima voran. Eigentlich. Manchmal gerät die Besatzung, die sich mit dem Boot nahe der türkisfarbenen Wasseroberfläche nach vorne bewegt, aus dem Takt. Dann passt die Geschwindigkeit nicht mehr – und auch die Richtung muss zuweilen korrigiert werden. Jedenfalls sollte das ovale Kajak den verhältnismäßig niedrigen Wellen nicht die Breitseite bieten. Sonst reichen selbst diese aus, um die fleißigen Ruderer aus dem Gleichgewicht zu bringen und ins Wasser zu kippen. Der Wind, der einem leicht ins Gesicht bläst, erweist sich als kleiner Widerstand, der den Eifer der Kajak-Gruppe an der Südküste Menorcas ein wenig abbremst – zumindest auf der Hinfahrt vom Familienferienort Cala Galdana aus in Richtung Osten.
Dennoch ist die Mühe auf dem Meer nicht übermäßig groß. Und sie wird vielfach entschädigt. Mehrere Höhlen, die vom Land aus nicht zu erkennen sind, zeigen unter den steil abfallenden Felsen ihre verborgenen Öffnungen. Es ist wie eine Einladung, sie zu befahren – und allzu leicht verbunden mit der Fantasie, in diesen Sekunden ein Entdecker zu sein.
Wieder im Licht der Mittelmeersonne geht es weiter entlang der Küste. Wer einen Zwischenstopp vor der Rückreise einlegen will, bekommt Badebuchten und kleine Strände mit feinem hellen Sand präsentiert, die man nicht auslassen sollte. Vom Wasser aus sind diese besonderen Flecken oft leichter zugänglich als vom Land aus. Die Küstenlinie der nur rund 700 Quadratkilometer großen Insel erstreckt sich über insgesamt 210 Kilometer und hat mit über 120 Stränden mehr zu bieten als die größere Schwester Mallorca.
Wer aktiv sein will, muss sich auf Menorca nicht unbedingt aufs Wasser begeben. Der in 20 Fußetappen eingeteilte „Camís de Cavalls“, der Pferdeweg schlängelt sich auf seinen 185 Kilometern an der Küste entlang um die Insel. Nach mehreren hundert Metern wiederkehrende Holzpfosten zeigen an, dass die Besucher auf dem richtigen Weg sind. Dabei ist die Rundwanderung keine Selbstverständlichkeit und das Ergebnis einer Initiative des Inselrats. Bis im Jahr 2010 der durchgehende „Camís de Cavalls“entstand, musste viel Überzeugungsarbeit geleistet werden. Zahlreichen Privateigentümer wollten ihren Grund und Boden nicht für jedermann zugänglich machen.
Doch wer sich erhofft, protzige Villen an den Felsenküsten erspähen zu können, wird enttäuscht. Statt- dessen durchqueren die Fußgänger knorrige Wäldchen und karge Wiesen. Wer die Nebensaison zwischen November und März wählt, hat auf diesem Weg gute Chancen Stille zu finden, was auf Menorca nicht selbstverständlich ist.
Menorca hat zwei Zentren – wenn man die Hafenstädte Ciutadella und Mahón bei einer Gesamtbevölkerung auf der Insel von 90000 Einwohnern so nennen möchte. Ciutadella im Westen ist die nicht ganz so geschäftige Stadt, die für Einheimische wie Touristen in der Altstadt dennoch viele kleine Geschäfte bietet. Die „Avarcas“gehören zu den Rennern im Dauerangebot. Die Sohlen der typischen menorquinische Sandalen bestehen aus dem Gummi von Autoreifen.
Die Gassen Ciutadellas wirken im Zentrum herausgeputzt. Die Fassaden werden im Frühjahr gestrichen. Es riecht nach Erneuerung. Im Gegensatz zur Hauptstadt Mahón (mit weitverzweigten Festungsbauten, die besichtigt werden können, und dem nach dem australischen Sydney zweitgrößten Naturhafen der Welt) hat das alles den Anschein, ein wenig harmonischer und liebevoller aufeinander abgestimmt zu sein.
Einen ähnlichen Eindruck hatte offenbar auch Ronald Fritz, der sich vor 35 Jahren am Stadtrand von Ciutadella niederließ. Gemeinsam mit seiner Frau kaufte er ein über 200 Jahre altes Bauernhaus. Nach seiner „wilden Hippie-Zeit“in Amsterdam und Marokko wurde zunächst das spanische Festland seine neue Heimat, ehe es ihn auf Menorca zog. Nach der Pleite mit dem Betrieb einer Gastwirtschaft baut der 65-Jährige heute lieber in seinem Gemüsegarten nach biologischdynamischer Methode an, hat Hunde und hält Hühner. Und der Österreicher Fritz, mittlerweile vierfacher Großvater, zeigt Touristen die Insel, die die Unesco bereits vor 25 Jahren entdeckt hat, als sie das gesamte Eiland zum Biosphärenreservat erklärt hat.
Vielleicht hat dazu ungewollt General Franco beigetragen. Der hatte sich in Spanien an die Macht geputscht und damit 1936 den Spanischen Bürgerkrieg ausgelöst. Die Menorquiner waren die einzige Bevölkerung einer Baleareninsel, die gegen Franco Widerstand geleistet hat – wenn auch ohne Erfolg. Unter seiner diktatorischen Herrschaft (1939–1975) wurde Menorca links liegen gelassen. Erst in den 70er Jahren hat sich, wie Ronald Fritz es formuliert, ein „schüchterner Tourismus“entwickelt.
Auf seinen Touren geht der Inselkundige noch viel weiter in der Zeit zurück und führt seine Gäste an prähistorische Fundorte. Menorca ist geradezu übersät mit Zeugnissen der sogenannten Talayot-Kultur. Insgesamt gibt es über 1500 Fundstätten – im Schnitt eine auf zwei Quadratkilometern – mit Monumenten, die zwischen 4000 und 2000 Jahre alt sind.
Der namensgebende Talayot war ein aus großen Steinen angelegter, dickwandiger und runder (später quadratischer) Beobachtungsturm, der an erhöhten Stellen aufgebaut wurde, um mögliche Feinde frühzeitig erkennen zu können.
Vor Kraft strotzende Riesen scheinen damals die Arbeit verrichtet zu haben. Die in unmittelbarer Nähe der Talayots stehenden Taulas, das bedeutet „Tisch“oder „Tafel“, bestehen aus zwei aufeinander geschichteten Steinen in T-Form, die bis zu fünf Meter in die Höhe ragen konnten. Die Taulas waren die Zentren religiöser Kultstätten. „Magische Kraftpunkte einer steinreichen Insel“, sagt Ronald Fritz.
Die Zeugnisse seiner Ureinwohner wollte Menorca besonders hervorheben. 32 dieser Denkmäler zählten im vergangenen Jahr zur Bewerbung für das Weltkulturerbe der Menschheit. Allerdings ist es der Insel vorerst nicht gelungen, in diese Liste aufgenommen zu werden.
Das also hat Menorca noch nicht erreicht. Eines kann der Insel im westlichen Mittelmeer aber sicher nie genommen werden: Im Osten, in Es Castell, zeigt sich Spaniens Morgensonne als erstes …
Wo die Sonne sich in Spanien als erstes zeigt