Wenn der Kanal seine Geheimnisse preisgibt
Einmal im Jahr senkt die Stadt den Wasserspiegel in den fließenden Gewässern. Auf rund 180 Kilometern Strecke gibt es dann viel zu tun und auch einiges zu finden
Im April gilt das Buddha zugeschriebene Zitat auch für die Kanäle der Wertach in Augsburg: „Drei Dinge können nicht lange verborgen sein: die Sonne, der Mond und die Wahrheit“. Denn wenn die Stadt in den Bächen und Kanälen das Wasser ablässt, kommen Wahrheiten ans Licht, die zuvor unter dem Wasserspiegel verborgen lagen. Auf der Wertachseite läuft die Maßnahme noch bis Samstag. Im Mai und Herbst folgen die vom Lech gespeisten Gewässer, im Oktober die des Lochbachs. Wenn die Wasseradern der Stadt durchschnittlich einen Meter tiefergelegt werden, geben sie ihre Geheimnisse preis.
Gegenstände etwa, die teils aus Versehen, teils vorsätzlich in das Wasser geworfen wurden. In der Altstadt ist das oft Geschirr und Besteck aus den flussnahen Cafés. Am Plärrer finden sich Maßkrüge. In Göggingen ist ein Kanalabschnitt als „Golfball-Biotop“bekannt – dort landen die Golfbälle, die die Singold von einem angrenzenden Golfplatz mitbringt.
Gesunkene Schiffe gibt es nicht, wohl aber gesunkene Mülltonnen und Einkaufswägen. Kameras, Laptops und Handys tauchen ebenfalls auf. „Fernseher und Kühlschränke haben wir auch schon entsorgen müssen“, erzählt Rudolf Wörle, Hauptwerkmeister beim Wasserund Brückenbau der Stadt.
In der Hoffnung auf versunkene Schätze marschieren bisweilen Menschen mit Metalldetektoren auf eigene Faust durch den abgesenkten Fluss. Vor allem an den Badestrecken hoffen sie auf Münzen, Uhren und Schmuck. Das ist nicht nur juristisch fragwürdig, sondern auch vergebliche Liebesmüh: Gefundene Geldbeutel sind nahezu immer leer, sagt die Stadt, weil es sich um Spuren von Diebstählen handelt, welche die Täter verschwinden lassen wollen. Elektronische Geräte haben längst ihren Geist aufgegeben, wenn sie aus dem Wasser gefischt werden. Fahrräder finden sich zwar oft, doch die wertvollen Gangschaltungen sind von den Dieben längst abmontiert worden. Im Fluss landen nur die Rahmen. Zum Vorschein kommt all das erst, wenn der Wasserspiegel gesenkt wird.
Manchmal bekommt die städtische Abteilung für Wasser- und Brückenbau auch Anrufe wie: „Mir ist mein Schlüsselbund durch die Brückenritze gefallen, kann man da nichts machen?“Die Frage muss Markus Haller verneinen. „Ob Handtaschen oder Schlüssel, so schnell kann man gar nicht schauen, wie die weg sind“, weiß er. „Bei Strömungen und Fließgeschwindigkeiten von eineinhalb Meter in der Sekunde, nimmt der Fluss die Sachen mit und bringt sie irgendwohin. Die finden wir nie wieder.“Es gibt allerdings Ausnahmefälle.
Auf polizeiliche Anordnung führt das Amt auch außerhalb der Ablässewochen aufwendige Sonderablässe durch. Das war beispielsweise der Fall, als beim früheren Bischof Walter Mixa eingebrochen wurde. Der Wasserpegel des Senkelbachs wurde im März 2014 gesenkt, damit Polizeitaucher das Diebesgut sicherstellen konnten. Auch nach dem Polizistenmord 2011 wurde das Wasser des Eiskanals für die Spurensuche teilweise abgelassen. Doch warum muss die Stadt überhaupt das Wasser ablassen? „Im ersten Schritt wird geprüft, ob an den Uferwänden oder an den Bauwerken Sanierungsarbeiten notwendig sind“, erklärt Karoline Pusch vom Tiefbauamt, „das ist unter Vollfüllung nicht machbar.“ Als Abteilungsleiterin des Bereichs Wasser- und Brückenbau ist sie für 180 Kilometer Fließgewässer und rund 500 Brücken zuständig.
Fürs Abstellen der Turbine im Wertach-Kraftwerk während der Ablässewochen sind dagegen Margit und Heinrich Winter zuständig. Als Kraftwerksbesitzer bewohnen sie seit den Achtzigerjahren eine ganz besondere Immobilie. Weniger besonders sind dagegen die üblichen Fundstücke, auf der 1,8 Kilometer langen Strecke, für die die Winters zuständig sind: keine Flaschenpost, sondern nur leere Flaschen, die gedankenlos versenkt wurden.