Eine Million Kinder sind Opfer sexueller Gewalt
Statistik Die meisten leiden unbemerkt – und häufig sind nahe Verwandte die Täter
Augsburg Sexuelle Belästigung von Kindern ist in Deutschland weiter verbreitet, als es die jährliche Kriminalstatistik der Polizei nahelegt. Bei weitem nicht alle Täter müssen sich vor Gericht rechtfertigen und für ihre Verbrechen im Gefängnis büßen wie das Paar aus Staufen, das das eigene Kind vergewaltigt und an fremde Männer verkauft hat.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass etwa 18 Millionen Minderjährige in Europa sexuelle Gewalt erfahren. Die Autoren der sogenannten Meta-Analyse haben Statistiken, Befragungen und Opferberichte verschiedener Länder ausgewertet und zu einer großen Schätzung zusammengeführt.
In Deutschland untersucht die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs solche Taten. Die Expertengruppe um Familienforscherin Sabine Andresen nimmt basierend auf der WHO-Statistik an, dass hierzulande rund eine Million Mädchen und Jungen Opfer von Übergriffen sind. „Das bedeutet, dass etwa ein bis zwei Schüler in jeder Klasse von sexueller Gewalt durch Erwachsene betroffen sind“, so die Berliner Kommission. Oft leiden die Kinder unbemerkt von Eltern, Lehrern und der Polizei. Deren jährliche Kriminalstatistik zeigt nur einen kleinen Teil der Taten – nämlich die, die angezeigt werden. Die Zahl der Sexualdelikte gegen Kinder und Jugendliche, bestätigt das Bundeskriminalamt, sei „in den vergangenen Jahren relativ gleich geblieben“. 2017 etwa wurden 13539 Kinder unter 14 Jahren missbraucht. Gleichzeitig betonen die Ermittler, die Dunkelziffer sei „sehr groß“.
Der Begriff „sexuelle Gewalt“ist weit gefasst: Wenn ein Erwachsener anzüglich mit einem Kind spricht oder sich vor ihm auszieht, fällt das ebenso darunter, wie wenn er es unsittlich berührt oder zu pornografischen Fotos zwingt. Eine Vergewaltigung ist die schwerste Form des sexuellen Missbrauchs.
Eine wachsende Gefahr birgt das Internet. „Die Spielwiese der Täter hat sich durch das Internet ins Unendliche vergrößert“, sagt Julia von Weiler, die als Vorsitzende der Organisation Innocence in Danger (Unschuld in Gefahr) gegen sexuellen Missbrauch kämpft. „Sie haben es so leicht wie nie, unerkannt mit Kindern in Kontakt zu kommen.“
Dennoch findet sexuelle Gewalt der Statistik zufolge immer noch am häufigsten in der Familie statt. Bei etwa einem Viertel der jungen Opfer sind es nahe Verwandte, die ihnen so Schlimmes antun. Der StaufenProzess hat Deutschland auch deshalb so erschüttert, weil dort aus der Mutter eine Peinigerin wurde. Dass Frauen, sogar Mütter zu solchen Gräueltaten fähig sind, ist in der Öffentlichkeit bislang kaum ein Thema. Familienforscherin Sabine Andresen
„Jeder von uns kennt Opfer.“
Kinderschützerin Julia von Weiler
mahnt, dass sich das ändern muss: „Weil es so schwer vorstellbar ist, dass eine Mutter Täterin ist, haben wir es hier mit einer Tabuisierung zu tun.“Der Fall Staufen biete die Chance, dieses Tabu endlich zu brechen. „Alle Beteiligten brauchen das Wissen, dass auch Mütter Täterinnen sein können, damit sie auf Signale des Kindes achten können.“Auch Opferschützerin von Weiler fordert, besser hinzuhören. Bei einer Million belästigter Kinder ist sie sicher: „Jeder von uns kennt Opfer, ob wir es wissen oder nicht. Und damit ist es auch wahrscheinlich, dass jeder von uns Täter oder Täterinnen kennt.“Man müsse anfangen, selbstverständlich über sexuellen Missbrauch zu sprechen – egal ob im Sportverein, in der Kirche oder im Chor. „Dass Erwachsene das Thema so oft verleugnen, schützt die Täter am besten.“