Steinmeier sorgt sich um Kluft zwischen Stadt und Land
Überaltert und abgehängt: Der Bundespräsident will die Attraktivität von Dörfern fördern
Berlin Vor nicht allzu langer Zeit ist er als Außenminister durch die Welt getourt. Jetzt zieht es Frank-Walter Steinmeier als Bundespräsident in die Provinz. In diesem und im kommenden Jahr will er unter der Überschrift „Land in Sicht – Zukunft ländlicher Räume“dafür werben, dass die Attraktivität des ländlichen Raumes gestärkt wird. „Ich bin selber auf dem Dorf geboren und aufgewachsen“, sagte der im ostwestfälischen Brakelsiek groß gewordene Steinmeier. „Ich weiß, was es bedeutet, wenn Tankstelle, Geschäfte und Arztpraxen schließen und die Busse nicht mehr fahren.“
Steinmeier zeigte sich besorgt über eine wachsende Kluft zwischen Stadt und Land. Sie bedrohe den Zusammenhalt der Gesellschaft. Das Grundgesetz schreibe vor, gleichwertige Lebensverhältnisse zu erhalten. Die Politik müsse das ermöglichen. Immer noch leben zwei Drittel der Deutschen im ländlichen Raum. Viele Dörfer leiden unter Bevölkerungsschwund und Überalterung. Ein Alarmsignal für die Politik: Wahlforscher gehen davon aus, dass es die sich abgehängt fühlenden Menschen auf dem Land sind, die zu extremen politischen Entscheidungen neigen.
Die Bundesregierung hat im Juli eine Kommission eingesetzt, die unter dem Titel „Gleichwertige Lebensverhältnisse“Vorschläge für eine Trendwende erarbeiten soll.
Dass etwas im Argen liegt, bestätigt der als „Dorf-Papst“bezeichnete Humangeograf Gerhard Henkel. Es gebe in vielen ländlichen Räumen einen massiven Vertrauensverlust gegenüber den staatlichen und kirchlichen Zentralen, sagt der frühere Professor an der Universität Duisburg-Essen. Es geht um Identität: Gerade in den östlichen Bundesländern gebe es Bestrebungen, durch Gebietsreformen Kreise und Gemeinden zusammenzulegen. Kirchen, Sparkassen und Krankenhäuser täten es ihnen gleich. Auch die Urbanistin Kerstin Faber warnt vor einem „Abbau der Daseinsvorsorge“. Junge Menschen zögen vermehrt in die Städte – weil „sie dort eben ihre Szenen finden, die sie suchen“, sagt sie. Ein Teufelskreis: Weil die Jüngeren wegziehen, werden Kindergärten, Krankenhäuser, Gasthöfe und Schulen geschlossen. Läden und Arztpraxen machen dicht, der öffentliche Nahverkehr wird zurückgefahren.
Für Steinmeier, Faber und Henkel ist das allerdings kein Naturgesetz. Der Bundespräsident verwies am Donnerstag auf Städte und Gemeinden, in denen Bürger und Kommunalpolitiker aktiv geworden seien, um das Kulturangebot zu verbessern, die Lebensmittelversorgung zu erhalten oder Mitfahrgelegenheiten zur nächsten Arztpraxis zu organisieren.
Aus Sicht von Henkel braucht der ländliche Raum starke wirtschaftliche Strukturen. Dabei erbringe er derzeit immer noch 57 Prozent der Wirtschaftsleistung in Deutschland. Auch Internet und Energiewende könnten die Attraktivität des Landlebens erhöhen, so der Wissenschaftler. Faber verweist auch auf teuren Wohnraum in den Städten. Gerade für junge Familien könne es deshalb wieder attraktiver werden, aufs Land zu ziehen. Die Architektin sieht die Bewohner gefordert: „Sie müssen nicht damit einverstanden sein, dass das Land abgehängt wird.“