Werden Russlands Rentner eine Gefahr für Putin?
Wegen der geplanten Reform wächst der Unmut. Was die Bürger so wütend macht
Moskau Zuletzt war es das Knie. Vera Mischina – ihren richtigen Namen will sie nicht in der Zeitung lesen – war hingefallen, musste zum Arzt. Eigentlich gibt es in Russland eine Krankenversicherung, eigentlich auch eine kostenlose Medizin. Diese aber ist an die sogenannte „Propiska“gebunden, die noch aus Sowjetzeiten stammende Einwohnerregistrierung. Vera Mischina ist in einer Kleinstadt im Pensaer Gebiet registriert, 600 Kilometer südöstlich von Moskau entfernt. Sie ist Rentnerin. Doch sie arbeitet, wie es jeder zweite Rentner im Land nach seiner Pensionierung tut. Ihrem Job geht sie in Moskau nach.
Dort – und eben nicht in der Stadt, in der sie registriert ist – geht die Nicht-Moskauerin auch zum Arzt. Das hat zur Folge, dass sie die Behandlungen selbst zahlen muss. Das geht ins Geld, zumal die Erkrankungen im Alter häufiger werden. 56 Jahre alt ist sie jetzt, ihre Rente liegt bei umgerechnet knapp 150 Euro. Zu wenig zum Leben. Und doch freut sich die zweifache Mutter über das Geld. „Es ist eine Art Zuschuss vom Staat. Ein stabiles Zusatz-Einkommen in einem Land, in dem wenig stabil ist“, sagt sie, die einst in einem Kindergarten arbeitete und heute Kinder bei Moskauer Familien betreut. 60 000 Rubel verdient sie so monatlich dazu, etwa 750 Euro. Natürlich schwarz. Denn das Misstrauen in den Staat, von dem man andererseits die Vollversorgung erwartet, ist groß. Warum Steuern zahlen, wenn das System korrupt ist? Der „Umschlag-Verdienst“ist längst etabliert: Einen Teil des Gehalts zahlen vor allem Kleinunternehmer offiziell, den größeren Teil aber überreichen sie ihren Angestellten in einem Umschlag. Bis zu 30 Millionen Russen arbeiten so in der Schattenwirtschaft. „Ich nutze die Zeit, in der ich noch fit und gesund bin, um für die Zeit, in der ich womöglich gebrechlich sein werde, zu sparen. Mit unserer Rente allein landet man direkt in der bitteren Armut und schnell unter der Erde“, sagt Vera Mischina, die mit Tochter, Schwiegersohn und Enkel in einer Moskauer Zweizimmerwohnung lebt.
Fünf Jahre länger sollen die Russen nun arbeiten. In einem Stufenmodell soll das Renteneintrittsalter bereits ab 2018 für Frauen auf 60 Jahre, für Männer auf 65 Jahre erhöht werden. Das Parlament wird
Die Lebenserwartung der Russen ist relativ niedrig
das Gesetz nach einer Abmilderung durch den Präsidenten wohl in diesem Herbst annehmen. 89 Prozent der Russen sind nach Angaben staatlicher Meinungsforscher gegen die Reform, die lediglich das Alter anhebt, an der Ausgestaltung der Pensionen aber nichts ändert.
Das sorgt für so viel Unmut in der Bevölkerung, deren Lebenserwartung für Männer bei 67 und für Frauen bei 77 Jahren liegt, dass Zehntausende nahezu wöchentlich im ganzen Land demonstrieren. Wladimir Putins Beliebtheit – der Präsident hatte einst erklärt, mit ihm an der Spitze des Landes würden die Renten nicht angetastet – ist auf unter 40 Prozent gesunken. „Die sogenannte Reform ist Betrug an uns Menschen. Viele haben geschuftet, haben sich darauf verlassen, dass sie mit der Rente, mag sie noch so niedrig sein, eine Art frühe Kompensation vom Staat erhalten. Nun bricht das, worauf man gesetzt hatte, Jahre früher weg“, sagt Vera Mischina.
In ihrer Heimatstadt, die bis heute wegen der Rüstungsindustrie nicht ohne spezielle Erlaubnis zugänglich ist, sterben die Menschen reihenweise an Krebs. „Die Rente nennt man bei uns in der Stadt nur noch Sarg-Geld.“