Was geschah in Chemnitz?
Der Verfassungsschutz-Chef bezweifelt, dass es Hetzjagden gegeben hat. Belege dafür hat er allerdings nicht. Noch nicht einmal die Kanzlerin kennt seine Quellen
Berlin Gab es in Chemnitz gar keine Hetzjagden? Weiß Verfassungsschutz-Chef Hans-Georg Maaßen mehr über die Vorfälle in Chemnitz? Und wenn ja, warum teilt er sein Wissen nicht? Pikante Aussagen des Präsidenten des Inlandsgeheimdienstes sorgen für Irritationen im politischen Berlin.
In einem Gespräch mit der BildZeitung sagte Maaßen, dem Verfassungsschutz lägen keine belastbaren Informationen darüber vor, dass bei den Demonstrationen in Chemnitz „Hetzjagden“stattgefunden hätten. „Es liegen keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierende Video zu diesem angeblichen Vorfall authentisch ist.“Noch mehr: Nach seiner Bewertung „sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken“.
Mutmaßlich bezieht sich Maaßen auf ein Video, das der TwitterNutzer „Antifa Zeckenbiss“am 26. August um 20.56 Uhr veröffentlicht Bis Freitag wurde es mehr als 370 000 Mal aufgerufen. „Antifa Zeckenbiss“beschreibt die Szene – allem Anschein nach aus Chemnitz – im Text als „Menschenjagd“: Zu sehen ist eine Gruppe, die so aggressiv auf einen jungen Mann in Jeans zugeht, dass dieser wegrennt, dazu sind Parolen wie „Haut ab“und „Kanaken“zu hören.
Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hält dieses Video für echt. „Wir haben keine Anhaltspunkte dafür, dass das Video ein Fake sein könnte“, sagte Oberstaatsanwalt Wolfgang Klein Zeit online. Es werde deswegen für die Ermittlungen genutzt. Er wisse nicht, aufgrund welcher Informationen Maaßen zu anderen Schlussfolgerungen gekommen sei. Laut Zeit Online und Zeit zeigt ein bisher unveröffentlichtes weiteres Video teilweise die gleichen Männer, wie sie auf den anderen Aufnahmen zu sehen sind.
Umstritten ist der Begriff „Hetzjagd“auch seitdem der Chefredakteur der Freien Presse Chemnitz geschrieben hatte, dass solche nicht stattgefunden hätte. Der Deutsche Journalisten-Verband spricht hin- gegen von Augenzeugenberichten von Journalisten, die in Chemnitz zum Teil selbst Opfer rechter Gewalt wurden.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte am Dienstag in einem Interview: „Wir haben Videoaufnahmen darüber, dass es Hetzjagden gab, dass es Zusammenrottungen gab, dass es Hass auf der Straße gab, und das hat mit unserem Rechtsstaat nichts zu tun.“Die Kanzlerin wusste nichts von der Einschätzung des Verfassungsschutz-Chefs. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte: „Es hat dazu kein Gespräch der Bundeskanzlerin mit Herrn Maaßen in den letzten Tagen gegeben.“
Mehr Informationen hat möglicherweise Bundesinnenminister Horst Seehofer. Der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz habe ihm seine Einschätzung mitgeteilt, sagte der CSU-Chef. „Worauf er sie stützt, weiß ich nicht“, fügte Seehofer hinzu. Er tauschte sich ebenfalls nicht mit dem Bundeskanzleramt aus. „Mich hat aus dem Kanzleramt niemand danach gefragt“, sagte Seehofer. Der FDP-Innenexperte Benjamin Strasser (Rahat. vensburg) forderte Maaßen auf, „glasklare Beweise“für seine Aussagen zu Chemnitz vorzulegen. „Ohne diese Belege hätten wir es nur mit dem großen Bluff eines Verfassungsschutzpräsidenten zu tun, über den wir nahezu täglich neue Vorwürfe wie die Politikberatung der AfD oder das Verschweigen eines V-Manns im Fall Amri erfahren“, sagte er unserer Zeitung. Dass Seehofer diesen Mann noch schütze, „liegt vielleicht in ihrer beiderseitigen Ablehnung der Migrationspolitik der Bundeskanzlerin“.
Maaßen werde voraussichtlich in der kommenden Woche in einer Sondersitzung des Innenausschusses des Bundestags befragt, sagte Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU). „Diese ständigen Vorverurteilungen in alle Richtungen müssen endlich aufhören“, kritisierte Kauder außergewöhnlich heftig.
Warum der Streit um das Wort „Hetzjagd“ein gesellschaftliches Problem offenbart, lesen Sie in der Politik. Hier sprechen wir auch mit dem SPD-Politiker Wolfgang Thierse und vertiefen den Blick auf Verfassungsschützer Maaßen.