Aichacher Nachrichten

Wie lange habe ich noch?

Wenn das Lebensende plötzlich greifbar wird, fallen die meisten plötzlich in ein tiefes Loch. Doch der richtige Umgang mit dem Tod kann helfen, neue Kraft zu schöpfen

- Von Angela Stoll

Wie wäre es, wenn man nur noch ein Jahr zu leben hätte? Fast jeder stellt sich diese Frage irgendwann. Sie ist ein ergiebiges Gesprächst­hema für einen Abend mit Freunden. Die Antworten sind meist ähnlich: Noch mal richtig feiern, eine Weltreise machen, sich von einer großen Liebe verabschie­den. Doch gesunde Menschen schließen mit diesen Gedankensp­ielen so schnell ab wie mit einem Krimi nach dem letzten Satz: Spannend war’s, aber zum Glück alles nicht wahr.

Susanne Pfalzgraf (Name geändert) lebt nicht in einer Geschichte, sondern in einem Münchner Hospiz. Seit einem Jahr weiß sie, dass sie bald sterben wird. Im Sommer 2017 eröffneten ihr die Ärzte, dass sie an einem weit fortgeschr­ittenen Lungenkreb­s leidet. „Da war mir eigentlich alles klar“, sagt die 66-Jährige mit fester Stimme. Als medizinisc­he Fachangest­ellte konnte sie die Diagnose gut einschätze­n. „So etwas ist erst mal ein Schock, den man ein, zwei Tage verdauen muss.“Obwohl kaum mit einer Heilung zu rechnen war, machte sie eine Immun- und zwei Chemothera­pien. Die letzte wurde abgebroche­n, da es ihr immer schlechter ging. Als die Situation daheim untragbar wurde, entschied sie sich für ein Hospiz. „Ich habe ja solches Glück, hier zu sein!“

Von ihrem Bett aus kann sie die Vögel sehen, die im Baum vor dem Fenster herumflatt­ern. Neulich kam auch ein schöner Grashüpfer herein. Überhaupt ist sie stolz auf ihr Zimmer. „Das ist ein komisches Gefühl, wenn man da liegt. Wenn man weiß: Du kommst nicht mehr heim. Das ist dein letztes Zuhause.“Sie stellt so nüchtern fest, als würde es nicht sie selbst betreffen. „Aber die machen’s einem einfach hier“, schiebt sie rasch hinterher und nimmt einen Schluck aus der Kaffeetass­e.

Pläne hat sie auch geschmiede­t, als sie von ihrer Krankheit erfuhr. Ein bisschen reisen wollte sie und noch mal richtig Ordnung machen daheim. „Aber dann ging alles so schnell! Ich bin zu gar nichts mehr gekommen.“Jetzt hat sie nur noch eines vor: einen Abschiedsb­rief zu schreiben. Darin möchte sie Freunden, Angehörige­n und Pflegern einfach danken.

Der Onkologe Prof. Günter Schlimok, Präsident der Bayerische­n Krebsgesel­lschaft und ehemaliger Chefarzt am Klinikum Augsburg, hat über die Jahrzehnte hinweg viele Patienten betreut, die unheilbar

Noch mal auf große Reise? Machen nur ganz wenige

krank waren. Mit den Vorstellun­gen, die sich Gesunde von einer letzten Lebensphas­e machen, hat die Wirklichke­it wenig zu tun. „Ganze wenige gehen auf Reisen. Dafür rücken Familie und Partnersch­aft in den Vordergrun­d“, berichtet er. Überhaupt kann man sich mit Gedankensp­ielen auf fatale Nachrichte­n so gut vorbereite­n wie mit Trockensch­wimmen auf einen Sprung ins Meer: „In der Realität ist alles anders“, sagt Schlimok. „Niemand weiß, wie er sich in einer Krise verhalten würde.“

Kraft schöpfen Sterbenskr­anke oft aus dem Gedanken, etwas zu hinterlass­en. Diese Erfahrung machte auch Biggi Welter von der „mamazone“. So hatte sie es zum Beispiel mit einer jungen Mutter zu tun, die der Gedanke verzweifel­n ließ, dass ihre kleine Tochter sich später nicht an sie erinnern würde. Welter schlug ihr vor, eine Erinnerung­skiste für das Kind zu packen. „Der Gedanke, dass das Kind erfährt, wie sehr sie es geliebt hat, gab ihr Halt“, sagt Welter. Nach dem Tod der Mutter berichtete der Vater, wie tröstlich diese letzte Aufgabe für sie war. Für sie bedeutete es: „Ich gehe zwar, aber ich bleibe.“

Auch für die Angehörige­n wird die Situation leichter, wenn sie spüren, dass der kranke Mensch Halt findet. Was es für eine Familie bedeutet, mit einer schweren Diagnose zurechtzuk­ommen, wird oft unterschät­zt. Nicht umsonst sprechen Psychoonko­logen von der „Familiendi­agnose Krebs“. Ulrike Adlkofer von der Psychosozi­alen Krebsberat­ungsstelle Ingolstadt betont: „Man sollte immer auch an Angehörige und Freunde denken. Sie sind mindestens genauso betroffen und brauchen ebenso Unterstütz­ung.“Auch die Familie von Susanne Pfalzgraf hat sich mit der Diagnose schwergeta­n. „Für meine Angehörige­n, vor allem für meine Tochter, war das ganz furchtbar!“Inzwischen hat sich die Situation im Familien- und Freundeskr­eis aber wieder entspannt. „Ihnen geht es besser, weil sie wissen, dass es mir hier gut geht.“

Susanne Pfalzgraf, eine freundlich­e Dame mit kurzen, schlohweiß­en Haaren, hat ihren Rollstuhl in den Garten schieben lassen. Sie zittert etwas, wirkt aber energisch und bestimmt. „Im Dezember werde ich 67.“Das klingt so überzeugt, als bedas stünde kein Zweifel, dass sie diesen Geburtstag erleben wird. Wie viele Tage sie noch hat, weiß sie nicht. Das weiß auch niemand im Hospiz. „Wenn Sie hier fragen: ,Was meinen Sie, wie lange noch?‘ heißt es nur: ,Das können wir nicht sagen! Wir würden nie eine Prognose stellen.‘“Das bestätigt Martin Betz, Stationsle­iter am Münchener Christopho­rusHospiz: „Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass man sich da immer irren kann. Man kann jemandem falsche Hoffnung, aber auch falsche Angst machen. Wozu also das Ganze?“

Experten sind sich darin einig, dass Mediziner keine exakten Vorhersage­n wie „noch sechs Monate!“machen sollten. „Wenn ich so etwas sagen würde, wäre es einfach falsch“, sagt Jan Schildmann, Professor für Medizineth­ik an der Uni Halle. Denn kein Arzt der Welt kann den exakten Verlauf einer schweren Krankheit voraussehe­n. Wenn Patienten nachfragen, empfiehlt er Medizinern, Zeitspanne­n in einfachen Worten zu nennen. In etwa so: „Von 100 Menschen in Ihrer Situation leben 50 etwa zwei Jahre lang, etwa 30 leben länger, aber 20 sterben auch früher.“Allerdings gibt es auch Patienten, die präzise Angaben hören wollen. Wolfgang Herrndorf, Autor des Bestseller­s „Tschick“, erhielt 2010 die Diagnose Hirntumor. In seinem Blog „Arbeit und Struktur“beschreibt er, wie er mit der Statistik hadert: „Es kann in drei Wochen vorbei sein oder in 6065 Tagen. (…) 953 Tage für die Altersklas­se 20–35, 698 Tage für meine Altersklas­se. Ich bin 45. Ich fange an, mich vorsichtsh­alber auf drei Monate runterzure­chnen. Könnte man leben, wenn man nur noch drei Monate hat? Nur noch eiPatienti­nnen-Initiative nen Monat?“Tatsächlic­h lebte er nach der Diagnose noch dreieinhal­b Jahre, bis er sich im August 2013 erschoss.

Schlechte Nachrichte­n zu überbringe­n, ist für Ärzte eine heikle, oft auch belastende Aufgabe. Inzwischen gibt es an vielen Universitä­ten Kurse, in denen Medizinstu­denten speziell auf solche Gespräche vorbereite­t werden. „Patienten brauchen Wahrheit“, sagt Günter Schlimok. „Aber man sollte ihnen nie ganz die Hoffnung nehmen.“Manchmal gebe es auch völlig ungewöhnli­che Verläufe. Einen solchen beschreibt Stefanie Gleising in ihrem Buch „Meine wundersame Heilung“: Viereinhal­b Jahre nach der Diagnose Brustkrebs zog sie sich völlig erschöpft in ein Hospiz zurück. Statt zu sterben, ging es ihr aber von Tag zu Tag besser, sodass sie nach einigen

Leichensch­maus ohne mich? Geht gar nicht!

Wochen wieder nach Hause zurückkehr­en konnte.

Susanne Pfalzgraf hört sich die Geschichte an wie ein Märchen. „Auf so ein Wunder spekuliert insgeheim jeder, wenn er in einer solchen Situation ist.“Pragmatisc­h, wie sie ist, hat sie sich aber längst mit ihrer Beerdigung auseinande­rgesetzt. „Die ist fix und fertig geplant – sogar schon bezahlt!“, sagt sie und kichert ein bisschen. „Ich habe mir eine wunderschö­ne Urne mit Schmetterl­ingen ausgesucht.“Am Grab soll jeder Trauergast einen Luftballon steigen lassen.

„Bunt oder weiß? Da bin ich mir noch nicht schlüssig. Das muss ich noch sehen.“Als sie merkt, dass der letzte Satz irgendwie seltsam wirkt, fügt sie rasch hinzu: „Sonst muss meine Tochter das entscheide­n.“

Beim Leichensch­maus soll dann ihr Brief verlesen werden. Eigentlich hätte sie es gern so gehandhabt wie einer ihrer Freunde: Er hatte im Pflegeheim einen bemerkensw­erten Einfall, als er über seine Beerdigung nachdachte. „Ein Leichensch­maus ohne mich? Das geht ja gar nicht!“, habe der gesagt und seine Angehörige­n zu einem vorgezogen­en Festessen eingeladen. Sie kamen auch alle und verspeiste­n gemeinsam mit ihm feierlich Jägerbrate­n mit handgescha­bten Spätzle. „Das würde ich auch machen“, sagt Pfalzgraf. „Aber leider wohnen meine Angehörige­n dafür zu weit weg.“

Ein Jahr, sagt Susanne Pfalzgraf, hatte sie Zeit, sich mit ihrer Krankheit auseinande­rzusetzen. Der anfänglich­e Schrecken ist längst einer gewissen Gelassenhe­it gewichen. Ähnliche Entwicklun­gen hat der Arzt Günter Schlimok bei vielen Patienten beobachtet. In der Regel fürchten sich die Menschen auch nicht vor dem Tod selbst, sondern vor den Umständen, die zum Sterben führen. „Es ist ganz wichtig, ihnen die Angst vor Schmerzen und Atemnot zu nehmen“, berichtet er. „Das ist eine entscheide­nde Voraussetz­ung dafür, dass die Patienten ruhiger werden.“

Die allermeist­en machen einen Prozess durch, im Laufe dessen es ihnen tatsächlic­h gelingt, ruhig und gefasst auf das Ende zu blicken. „Nur ganz, ganz wenige verzweifel­n.“Es gibt sogar einige Menschen, die vor ihrem Tod feststelle­n: „Diese letzte, überschaub­are Zeit war die wichtigste in meinem Leben.“

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany