Isaacs Rückkehr
Migration Für den Traum von Deutschland hatte der Maler Isaac alles verkauft und seine Heimat verlassen. Nach höllischen Monaten in Libyen gab der Nigerianer auf. Ermuntert von Versprechungen der EU kehrte er zurück. Doch der Neuanfang ist schwer
Lagos Inmitten schwüler Nacht, im Scheinwerferlicht des Frachtflughafens von Lagos, hält eine nigerianische Politikerin eine flammende Rede. „Ihr solltet dankbar sein“, ruft sie den 160 Migranten zu, die gerade aus dem libyschen Flugzeug gestiegen sind. „Vor euch kamen einige mit nur einem Bein zurück. Andere mit nur einem Auge. Ihr aber habt alles, um mit Gottes Hilfe zu leben. Vergesst nie: Hoffnung kommt auf leisen Füßen.“
Am Rande des Hangars sitzt Isaac und ist zu müde, um leise Hoffnung zu hören. Hager ist er, an die 15 Kilogramm leichter als vor seiner Abreise aus Nigeria in Richtung Europa. Am Morgen noch war der 29-Jährige in der libyschen Schlepperstadt Zuwarah jeglicher Illusionen beraubt. Dann der Rückflug mithilfe der Internationalen Organisation für Migration (IOM) – über die Strecke, auf der er vor 14 Monaten fast umgekommen wäre.
Isaac löffelt schweigend kalten Reis und Hühnchen. Neben Feuerwehr-Lastwagen stehen Tische, an denen er gerade sein Leben neu geordnet hat – mit der Registrierung, einem Medizincheck, Zettel mit Telefonnummern für Beratungsdienste der IOM, einem Umschlag mit 40000 Naira, etwa 95 Euro. Dazu spendieren Mitarbeiter eines Mobilfunkanbieters ein einfaches Handy mit etwas Startguthaben. Das sind also die Zutaten des Neuanfangs.
Den macht die Europäische Union jenen schmackhaft, die in ihre Heimat zurückkehren. Und Nigerianer zählen zu den wichtigsten Zielgruppen. Mit 7149 Asylanträgen belegte Nigeria etwa in Deutschland im ersten Halbjahr 2018 Rang vier. Damit registrierten sich innerhalb von sechs Monaten annähernd so viele Menschen aus Afrikas einwohnerstärkstem Land bei den deutschen Behörden wie im gesamten Jahr 2017, da waren es 7448. Die Gesamtschutzquote ist gering, in Deutschland wird nicht einmal jedem sechsten Nigerianer Asyl gewährt.
Neben der kostenlosen Rückreise verspricht das von der EU finanzierte IOM-Programm „für die Verwundbarsten weitere Unterstützung bei Existenzgründungen, Studium und medizinischen Rechnungen“. Auch Präsident Muhammadu Buhari sagt: „Sie sollten hierbleiben und nach Wegen suchen, wie sie unsere Wirtschaft voranbringen können, anstatt ihr Leben zu riskieren.“
Isaac hatte sich in Lagos aus dem tiefsten Sumpf der Armut gekämpft, auf einem Schrottplatz geschuftet für das Startkapital als Maler. Mit Erfolg: Er hatte Aufträge, kaufte ein Auto, einen Laptop. Darauf sah er dann Bilder von deutschen Farbmischmaschinen. „Reise hin, spar ein wenig und bring die Maschinen nach Nigeria“, dachte er und verkaufte alles. Alles auf die falsche Karte. Seine Geschichte gleicht der von unzähligen Opfern illegaler Migration in Afrika: Betrogen von die immer neue Zahlungen verlangten. Entführungen und Zwangsarbeit in Libyen, von Milizen inhaftiert, bis der Traum von Europa dem vom bloßen Überleben gewichen war. Aber Isaac weiß noch nicht, ob sich das hier am Flughafen richtig anfühlt. Nicht einmal eine Tasche hat er.
Ob er bereit sei, sich einige Tage begleiten zu lassen? „Ja, alle sollen meine Geschichte hören.“Es ist Mitternacht, und Busse stehen bereit, um die Migranten in das „Lagos Airport Hotel“zu bringen. 154 sind Männer, nur sechs Frauen. Isaac teilt sich das Zimmer mit einem anderen Migranten, am nächsten Morgen trennen sich dann die Wege. Die Mehrheit wird in die Stadt Benin City gefahren, aus deren Einzugsgebiet besonders viele in Richtung Europa aufbrechen.
Isaac will in Lagos bleiben, der rasant wachsenden Stadt mit ihren 20 Millionen Einwohnern, die in Nigeria lange vor Europa als Versprechen für Wohlstand galt. In den 1970er Jahren lockte der Ölboom Millionen an, zuletzt die Landflucht. Die Reintegration erfolgt hier nach eigenen Gesetzen. Unter den Migranten spricht sich herum, dass der Prediger Temitope Balogun Joshua – vom Forbes-Magazin zum drittreichsten Prediger Nigerias gekürt – eingeladen habe.
Isaac macht sich mit auf den Weg. Aus dem Bus ruft er seinen Bruder Emmanuel an. „Emmanuel, ich bin es, Isaac“, sagt er mit heiserer Stimme, seit Tagen hat er eine Grippe. Der antwortet: „Mein Bruder Isaac ist tot. Wer bist du?“„Nein, ich bin wirklich.“„Das ist nicht seine Stimme.“Zuletzt hatte Emmanuel mit Entführern in Libyen telefoniert, die sagten, sie würden seinen Bruder töten, weil er anstelle der geforderten 300 Dollar nur 200 Dollar nach Libyen überweisen konnte. Er hörte, wie sie ihm Stromschläge verpassten. Danach konnte er Isaac nicht mehr erreichen. Monatelang hatte er getrauert. „Ich werde dich besuchen“, krächzt Isaac nun.
Doch zuerst der Segen. Der Bus hält vor der Kirche von Joshua, die mit 15 000 Sitzplätzen die Kapazität vieler Fußballstadien übersteigt. Joshua behauptet, mit seinen Gebeten HIV- und Krebsheilungen vollbringen zu können, und treibt Gläubigen routiniert den Satan aus. Als im Jahr 2014 ein Gasthaus der Kirche einstürzte, das Joshua ohne GenehSchleppern, migung ausgebaut hatte, machte der Prophet ein mysteriöses Flugobjekt verantwortlich. 110 Menschen starben, der Prozess läuft. Der Höhe seiner Spenden hat das wenig geschadet. Das goldverzierte Kirchenhaus liegt am Rande eines Armenviertels. „Wir sehen es als unsere Pflicht, für die Bedürftigsten zu sorgen“, sagt eine Britin, die sich wie zwei US-Amerikaner als Mitarbeiterin des Propheten vorstellt, „und die Rückkehrer gehören da natürlich dazu.“Ganz nebenbei eignen sie sich als Beleg für die Barmherzigkeit des Evangelisten vor den vielen Millionen Zuschauern des eigenen Fernsehsenders. In einer Empfangshalle setzen sich Isaac und rund 80 weitere Rückkehrer in zwei langen Reihen auf Plastikstühle. Eine Krankenschwester nimmt den Blutes druck, gefilmt von zwei modern ausgerüsteten Kamerateams der Kirche. Prophet Joshua ist verhindert, dafür hält eine Amerikanerin eine Predigt. Am Ende bekommt jeder zwei Säcke Reis und umgerechnet 100 Euro in die Hand gedrückt.
Danach bittet Isaac, ihn ein Stück mitzunehmen. Er dirigiert den Weg durch die Verkehrsanarchie. Das Ziel der Fahrt ist ein Waisenheim. „Die brauchen den Reis dringender“, sagt Isaac. Auch andere Migranten spenden die Säcke. So rau diese Stadt auch sein mag, man trifft auffällig viele Menschen, die einander helfen. Mit Mühe zerrt Isaac die Säcke aus dem Kofferraum. Dann bittet er um zwei Tage Ruhe. Er müsse schlafen, sich sammeln.
Nach dem Wochenende sitzt Isaac in der Wohnung eines Verwandten, wo er vorerst untergekommen ist. Sein Zimmer besteht aus einer Matratze, einer Bibel sowie zwei neuen Hosen und Hemden. Knapp 50 Euro waren für ein internetfähiges Handy fällig. Er will wieder als Anstreicher arbeiten, und zuletzt hatte er mit den meisten Kunden über WhatsApp und Facebook kommuniziert. „Ich habe gelernt, was ich an Nigeria habe“, sagt er, „ich kann mich wieder frei bewegen, mit den Leuten reden, mit ihnen Musik hören.“
Er ruft jetzt die Telefonnummern der IOM an, die er am Flughafen bekommen hat, zusammen mit dem Versprechen, man könne ihm auch bei einer Existenzgründung helfen. Bei der IOM hat Nigeria hohe Priorität, die Zahl der Mitarbeiter wurde dort von sechs auf 80 ausgebaut. 2017 kalkulierte man noch mit 3200 Rückkehrern bis zum Jahr 2020, nun rechnet man mit 15000. Bei einem überzeugenden Geschäftsplan werden pro Migrant bis zu 1200 Euro zur Verfügung gestellt.
Einige werden Elektriker, andere Friseure, andere kommen in Berufsschulen unter. In den kommenden Wochen soll eine Firma zur Verarbeitung von Ananas-Früchten in Benin City den Betrieb aufnehmen und 20 Migranten beschäftigen. Doch die Programme sind noch am Anfang und, wie ein IOM-Mitarbeiter hinter vorgehaltener Hand sagt, vorerst noch ein Tropfen auf den heißen Stein. Geschätzt zehn bis zwanzig Prozent der Rückkehrer würden wieder aufbrechen.
Immer wieder wählt Isaac die Nummern. Dreimal ist besetzt, zweimal nimmt keiner ab. Am Nachmittag kommt er durch – und bekommt eine andere Nummer genannt. „Wir rufen zurück“, heißt es dort. Isaac zieht los, er läuft quer über den Ladipo-Market, wo auf der Fläche einer Kleinstadt alte Autos ausgeschlachtet werden. Er will endlich seinen Bruder Emmanuel treffen. Zwischen alten VW-Bussen fallen sich die beiden Männer in die Arme. „Du lebst“, ruft der Bruder. Isaac sagt: „Ich habe überlebt.“
Emmanuel bietet an, er könne bei ihm arbeiten. Schon heute. Doch Isaac lehnt ab. Er hat als Anstreicher ein Vielfaches verdient, ist in Kontakt mit alten Kunden. Er hofft, dass die IOM beim Kauf von Farbanrührgeräten hilft. Vor allem aber will er so bald wie möglich seine Schlepper zur Rechenschaft bringen. Sie rekrutieren weiter, obwohl die Ankunft in Europa derzeit mit jedem Tag unrealistischer wird.
Am nächsten Morgen wählt Isaac wieder die Nummer der IOM. Erneut wird er um Geduld gebeten, auch zur Frage, wie er seine Schlepper anzeigen könne. „Ich kann warten, aber diese Verbrecher müssen jetzt gemeldet werden“, zürnt Isaac. Er hat die Bankverbindung, auf die er einen Teil des Geldes überweisen musste. Und er kennt die Adresse.
Doch bei der nächstgelegenen Polizeistation blickt die Beamtin kaum auf. Dafür sei das Hauptquartier des Bundesstaates zuständig. Wieder zwei Stunden Fahrt. Dort winkt jemand Isaac an seinen Schreibtisch, lässt sich den Vorgang schildern, ohne Notizen zu machen.
„Wo ist der Täter?“„In Libyen.“„Dann können wir nichts machen.“„Aber seine Frau ist hier. Ich habe die Bankdaten.“„Wo genau ist die?“„In Imo State.“„Dann ist die Polizei dort zuständig.“600 Kilometer sind es nach Imo State. Zwei Wochen nach seiner Rückkehr aus Libyen besteigt Isaac einen Bus und geht dort zur Polizei. „Wir können nichts machen“, heißt es auch hier. Isaac gibt auf. Per WhatsApp schickt er eine Nachricht: „Ich lasse Vergangenheit jetzt Vergangenheit sein, blicke nur noch nach vorne.“Er hat Aufträge als Maler, etwas Hoffnung, neues Vertrauen. Nur in sich. Aber immerhin.