Gin Tonic zum Gottesdienst
Kirche In einem ehemaligen Münchner Party-Viertel feiern Christen in einer Bar ihren Glauben auf eine etwas andere Art. Eine ausgezeichnete Idee, finden nicht nur die Besucher
München Amelie begutachtet die Sneakers ihrer Freundin Maiara: „Ich habe noch überlegt, ob ich heute meine hohen Schuhe anziehen soll.“Die beiden Teenager stehen am Tresen einer Bar im „Werksviertel“am Münchner Ostbahnhof, einem ehemaligen Party-Gelände. Entspannt ordern sie zwei Saftschorlen und warten darauf, dass es losgeht. An diesem Sonntagabend findet in der „Nachtkantine“jedoch keine wilde Party oder ein Konzert statt, sondern „Sunday“– ein evangelisches Gottesdienstformat mit viel Discolicht und wenig Kirchenmuff.
„Sunday“soll ein „moderner lutherischer Gottesdienst“sein, erklärt Initiatorin und Hochschulpfarrerin Claudia Häfner. Gemeinsam mit anderen evangelischen Pfarrern hat sie das Format ins Leben gerufen, um „kreativ und lebensnah Christsein zu feiern“. Denn das sei für viele in klassischen Sonntagsgottesdiensten nicht möglich. So entstand die Idee, die einerseits alle Generationen zusammenbringen und andererseits insbesondere die Jüngeren ansprechen soll. 40 Ehrenamtliche – darunter acht hauptamtliche Pfarrer und Diakone – stecken hinter dem Projekt. Dafür werden sie am Samstag mit dem Ehrenamtspreis der bayerischen Landeskirche ausgezeichnet.
Als Ort für ihren besonderen Gottesdienst entschieden sich die Macher ganz bewusst für das Gelände der ehemaligen Kultfabrik – über viele Jahre hinweg eines der bekanntesten Party-Viertel in München, das sich seit geraumer Zeit zu einem kreativen Szeneviertel entwickelt. „Wir wollten raus aus der Kirche. Denn für viele ist die Schwelle, eine Bar zu betreten, geringer, als in eine Kirche zu gehen“, erklärt Claudia Häfner. „Gottesdienstfeiern soll Freude machen und nicht steif sein! Es soll für alle easy möglich sein!“
Während Amelie und Maiara über gerade angesagte Turnschuhe fachsimpeln, gesellen sich die Eltern der Mädchen zu ihnen an die Bar. Die Freunde besuchen „Sunday“zum zweiten Mal. „Wir haben das als unsere Familientradition etabliert“, erzählt Amelie. Hier haben die Eltern keine Probleme, ihre Teenies für einen gemeinsamen Gottesdienstbesuch zu motivieren – in einen „normalen“würden sie nämlich nicht gehen, sagen die Mädchen. Da sei das „eine coole Alternative“.
An der Decke hängen Traversen voller Scheinwerfer, die Band trifft auf der Bühne letzte Vorbereitungen, die Barleute versorgen die Gäste mit Drinks. Bis auf drei Kerzen und ein kleines Kreuzchen auf dem Tisch vor der Band lässt kaum etwas erahnen, dass es sich hier nicht um einen gewöhnlichen Kneipenabend mit Livemusik handelt. Erst wer genauer hinsieht, entdeckt die an manchen Tischen gefalteten Hände im „Publikum“. Amelie, 11, und Maiara, 13, sind heute die jüngsten Besucher. Die meisten der etwa 20 Anwesenden, die allein oder zu zweit an den dunklen Holztischen Platz genommen haben, sind zwischen 20 und 40.
„Jetzt lasst uns einfach ein bisschen Lobpreis machen.“: Mit diesen Worten eröffnet die Band den Abend. Schon wummert der Bass los, die Scheinwerfer malen tanzende Muster an die Decke und die Musiker präsentieren mit rockig-poppigem Sound ihre junge Version des Gotteslobs. Sofort bringen sie die ersten Füße zum Wippen, erst zaghaft, dann immer deutlicher. Amelie und Maiara singen eifrig mit – statt auf Liedzetteln werden die englischen Songtexte hier per Beamer auf eine Leinwand projiziert.
Das Thema des heutigen Abends lautet „Freiheit“. Das Gottesdienstteam zeigt und liest Postkartenmotive mit Weisheiten, es geht um Gefangene, um Nelson Mandela, Dietrich Bonhoeffer, die Weiße Rose. Immer wieder wird Englisch gesprochen, wer sich eine Übersetzung wünscht, darf neben Dennis Platz nehmen, der heute den Dolmetscher gibt. Internationalität ist den Machern wichtig. Lasst euch nicht von Zwängen bestimmen, macht euch von Fremdbestimmtheit frei, lautet das Fazit des Abends. Dann richten die Prediger den Blick ins Publikum. „Was macht dich frei? An welchem Gefängnis feilst du?“, wollen sie wissen. Jeder soll mit seinem Sitznachbarn darüber sprechen: „Und wenn ihr euch noch nicht kennt, stellt euch doch kurz vor.“
Nach einer Stunde mit viel Musik und wenig klassischer Liturgie geht „Sunday“zu Ende. Ein Grund heimzugehen ist das aber für die wenigsten. Der Gottesdienst geht direkt in den gemütlichen Teil über: mit Pizza, Schorle und Gin Tonic.