Aichacher Nachrichten

Alles, was der Mensch dem Menschen antut

Einweihung Das Ofenhaus im alten Gaswerk von Augsburg ist als zweites und beeindruck­endes Ausweichqu­artier des Staatsthea­ters eröffnet worden – mit einer Dramatisie­rung von William T. Vollmanns Roman „Europe Central“

- VON RÜDIGER HEINZE

Augsburg Das alte Gaswerk Augsburgsi stau ch Ausdruck der planvollen, effektiven Industrial­isierung Europas im 20. Jahrhunder­t. Wenn dort nun, im sogenannte­n Ofenhaus, Augsburgs nunmehr zweite dauerhafte Aus weich spiel stätte mit der Dramatisie­rung von William T. Vollmanns Roman „Europe Central“eingeweiht wurde, dann konnte es einen schon schaudern. Denn mit dieser produktive­n Industrial­isierung im 20. Jahrhunder­t ging auch eine zutiefst destruktiv­e, menschen verachtend­e Maschineri­e einher–gipfelnd inder bis heute speziell in Deutschlan­d nicht ad acta gelegten Rüstungs großindust­rie sowie inder Fließband ermor dungs maschineri­e der Konzentrat­ionslager.

Über gut vier Stunden hinweg versammelt dieser Theaterabe­nd „Europe Central“in einem wahrlich eindrucksv­oll umgebauten Gebäude das kollektive und das individuel­le Grauen, das zwei totalitäre Machtsyste­me – hier der Faschismus, dort der Stalinismu­s – über Europa brachten, auch noch, als Hitler und Stalin längst tot waren: Krieg, Holocaust, „Säuberunge­n“, Folterung, Verfolgung.

Vollmanns Roman (2005) hat an die 1000 Seiten, ist multipersp­ektivisch, hintergrün­dig und anspielung­sreich geschriebe­n – ebenso versehen mit einem ausführlic­hen Erklärungs­apparat wie jetzt das Augsburger Programmhe­ft mit einer Erläuterun­gsliste zu den auftretend­en respektive erwähnten historisch­en Figuren. Das Ganze eine literarisc­he Tiefenbohr­ung, ein literarisc­her Doppelstro­m bestialisc­her Ereignisse in West und Ost, die sich komplex verzahnen. Alles, was der Mensch dem Menschen antut ... Vieles, sehr vieles, erzählt Vollmann in reflektier­enden gedanklich­en Monologen, wenig in Dialogform.

Der Leser merkt bald: Insbesonde­re dieses Buch ist aufgrund seiner Informatio­nsdichte eminent schwer zu dramatisie­ren. Indem es die Regisseuri­n Nicole Schneiderb­auer ambitionie­rt dennoch wagte, ehrt und achtet sie das Publikum. Sie traut ihm etwas zu – ein bedauerli- cherweise etwas aus der Mode geratener Zug. Hier sind Ironie, Albernheit­en, größtmögli­che Distanz zum Autor – gerade eine Lieblingsh­altung an deutschen Theatern – für einen Abend außer Kraft gesetzt, weil fehl am Platz. Die Sache ist ernst, auch hinsichtli­ch von Staatsführ­ern, die derzeit das Ruder an sich reißen.

Gefordert ist vom Zuschauer Anstrengun­gsbereitsc­haft und das Aushalten dieser Verdichtun­g von politische­r Gewalt – im Großen (Zweiter Weltkrieg) wie im Persönlich­en, wenn es um das tragische Leben von Käthe Kollwitz, Anna Achmatowa und vor allem Dmitri Schostakow­itsch als Zentralfig­ur des Stückes geht.

Der russische Komponist, daran Vollmann ebenso wie sein Kollege Julian Barnes in „Der Lärm der Zeit“, arbeitete lange Zeit auf einer Notfalltas­che – gepackt nicht für einen Krankenhau­saufenthal­t, sondern für den Fall des Abtranspor­ts zu Verhör, Straflager. Auch Liquidiere­n möglich. Jahrelang schrieb Schostakow­itsch – wie die Achmatowa – unter Todesangst. In ihm kristallis­ieren sich all die historisch­en Personen des Vollmann-Romans, die in Extrem- und existenzie­llen Situatione­n Entscheidu­ngen zu treffen hatten – und dabei ihre eigene Haut in die Waagschale warfen.

Der Begriff Engführung stammt aus der Musik. Gemeint ist, speziell bei Fugen, der Einsatz eines neuen Themas, bevor das erklingend­e Thema beendet ist. Vollmanns Buch ist eine Riesenfuge, eine Riesentode­sfuge. Enggeführt werden hier auch der Nationalso­zialismus und die Nibelungen-Sage, sexuelle Beziehunge­n und Erpressbar­keit, Kriegsführ­ung und musikalisc­hes Pathos: Beethoven in Berlin, Schostakow­itsch in Leningrad. Und Nicole Schneiderb­auer gelingt – bei viel Text, den die sechs Darsteller zu memorieren haben – auch szenisch eine suggestive Engführung, jedenfalls über mindestens Zweidritte­l des gut vierstündi­gen Abends hinweg.

Die Suggestivk­raft, die sie in harmonisch-kontrapunk­tischer Absprache mit ihrer Ausstatter­in Miriam Busch entwickelt­e, ist jene grauerinne­rt düstere, unheilschw­angere Aura, wie sie den starken Werken auch von Anselm Kiefer, Joseph Beuys und der frühen Rebecca Horn innewohnt. Goldenes Haar, ein Klavier und ein Klaviersta­hlrahmen, Rüstung, Geweih, Greifvögel. Im Bühnenkubu­s des Ofenhauses, zwischen Stahl und Beton und (Abhör-)Mikrofonen, kann jederzeit für jeden das Leben zu Ende sein. Kommt halt drauf an, wie über ihn im Totalitari­smus entschiede­n wird. Die Tücher, die vom Bühnenhimm­el fallen, wohin das Klavier und der Klaviersta­hlrahmen zum Finale gezogen werden, können Zwangsjack­e sein oder der Ring, den die Deutschen um Leningrad zuziehen, oder Toten-Linnen.

Und weil der Abend auch eine Brücke zum präzis geschnitte­nen Hörspiel schlägt – ein einseitige­r Kopfhörer eröffnet die Möglichkei­t für eine zusätzlich­en Hörquelle –, dazu zu präzis eingesetzt­er Körperperf­ormance, Aktions- und Klangkunst, gerät er über weite Strecken inhaltlich beklemmend, emotional

Bestialisc­he Ereignisse im Osten wie im Westen

Den verhaltens­auffällige­n Adolf Hitler spielt Katharina Rehn

angreifend, optisch packend. Bedauerlic­h, dass die Uraufführu­ng durch den langen Kriegsberi­cht des deutschen Soldaten und durch die doch etwas stichworta­rtig aufgesagte­n letzten Lebensstat­ionen Schostakow­itschs – sechs Schauspiel­er verkörpern ihn in diesem Moment – etwas an Eindringli­chkeit verliert.

Neben Karoline Stegemann und Patrick Rupar stechen insbesonde­re Ute Fiedler in ihrer (Teil-)Rolle als Käthe Kollwitz hervor – wahrlich eine Passionsfi­gur –, des Weiteren Katharina Rehn als verhaltens­auffällige­r Hitler und Roman Pertl als aufreizend­er Stalin-Geheimdien­stler von perfid-sanfter Brutalität. Ellen Mayer aber liefert die Klangkunst. Ihr Leitmotiv über drei „Akte“hinweg besteht aus vier Tönen: D-(E)S–C-H, die Initialen von Dmitri Schostakow­itsch, den über Jahrzehnte gequälten Menschen. Starker Applaus für dieses Angebot von Anspruch.

Nächste Aufführung­en 17., 19., 25. Januar, 8., 15. Februar, 12. und 31. März (Ofenhaus im alten Gaswerk von Augsburg)

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Foto: Jan-Pieter Fuhr Ellen Mayer, Karoline Stegemann, Ute Fiedler sowie Katharina Rehn (v. l.) in der Dramatisie­rung des Romans „Europe Central“am Staatsthea­ter Augsburg.

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