Wie Regionen zum Infektionsherd werden
Die deutschen Kliniken fürchten sich vor „italienischen Verhältnissen“. Doch die Brennpunkte der Pandemie sind in Italien wie auch in anderen Staaten auf bestimmte Landesteile begrenzt. Was kann man daraus lernen?
Berlin Die Berichte aus Bergamo klingen gespenstisch: Die Straßen sind angesichts der Ausgangssperre leer, auch die Fabriken und Bürohäuser sind, wie alle Betriebe außer den Lebensmittelhandlungen, geschlossen. So dringen die lauten durchdringenden Sirenen der italienischen Krankenwagen hunderte Meter weit durch die Stadtviertel und das Hinterland. Die weißroten Sankas fahren im Takt von einigen Minuten, die Sanitäter am Steuer und am Beifahrersitz sehen aus, wie die Spurensicherung aus dem Fernsehkrimi: Sie tragen über ihren hellroten Sanitäteruniformen weiße Papieroveralls, Mundschutz, Schutzbrille und Kapuze, immer griffbereit Sauerstoffflaschen und Desinfektionsmittel.
Bergamo und seine Landesregion Lombardei sind der „Hotspot“, der Brennpunkt der europäischen Corona-Pandemie. Nirgendwo gibt es mehr Infizierte, mehr Tote, mehr Überlebenskampf auf den Intensivstationen der Klinken. Die Region Lombardei ist mit zehn Millionen Einwohnern so etwas wie das größte „Bundesland“Italiens. Doch das erklärt nicht, warum die Region mit 41 000 Infizierten die meisten Corona-Kranken in Italien zählt. Zwei Drittel aller italienschen 11 000 Corona-Toten starben in der Lombardei, zählt man die angrenzenden
in den Regionen EmiliaRomagna, Venetien und Piemont dazu, stammen 83 Prozent aller Toten aus dem reichen Wirtschaftszentrum Italiens.
Längst sind die Intensivstationen ausgebaut, doch fast 90 Prozent der Verstorbenen sind über 70 Jahre alt, weit mehr als die Hälfte Männer. Bei hochbetagten Patienten stößt auch die Apparatemedizin an ihre Grenzen: Nur zwei Prozent der über 85-Jährigen sind ohne Vorerkrankungen. Der Rückgang der Muskeln macht im Alter auch nicht vor der Atemmuskulatur halt. Schon allein die Folgen langen Liegens verkraften die Alten weniger gut. In der Regel kommen Corona-Patienten für 16 Stunden auf Bauchlage für besseres Atmen. Schwersterkrankte Fälle werden intubiert und meist unter Narkose gesetzt, heißt es in den Ärzteberichten. Der Schutz der Alten und der Risikopatienten ist deshalb in der Lombardei oberstes Gebot: Kaum jemand geht noch ohne Mundschutz auf die Straße, Rettungssanitäter verteilen Sauerstoffflaschen mit Mundstücken an Senioren mit Atemproblemen.
Bislang galt die Theorie, dass das Fußball-Achtelfinale der Champions League zwischen Atalanta Bergamo und dem spanischen FC Valencia am 19. Februar die Region zum Hotspot gemacht hat. Der überraschende Sieg der Norditaliener wurde überschwänglich in Bars
Restaurants der Region gefeiert. Inzwischen gibt es aber unter Medizinern die Theorie, dass das Virus sich zu dieser Zeit längst wochenlang unbemerkt in der Region ausgebreitet hatte und die Symptome wie auch zahlreiche Lungenentzündungen mit der normalen Grippewelle verwechselt wurden. Viele Ärzte beschleicht der Verdacht, dass weniger das Fußballstadion als ihre eigenen Kliniken und Rettungsdienste die Infektionsherde gewesen sein könnten. Inzwischen sollen in Italien mehr als 40 Ärzte an den Folgen der Epidemie gestorben sein. Über 6000 Mediziner und Krankenpfleger haben sich mit dem Coronavirus infiziert – das sind fast sieben Prozent aller Infizierten in Italien.
Abseits der nördlichen Regionen rund um das Wirtschaftszentrum Mailand herrschen im Rest von Italien bislang kaum jene „italienischen Verhältnisse“, vor denen man heute in Deutschland so große Angst hat. Die Infektionszahlen in den nächstgrößten Regionen Latium um Rom und Kampanien mit dem Zentrum Neapel machen zusammen weit weniger als ein Zehntel der Zahlen im Norden aus. Auch die 215 Todesfälle in der Toskana standen am Wochenende 6360 allein in der Lombardei gegenüber. Allerdings steigen die Zahlen in ganz Italien.
Auch in den meisten anderen Staaten der Welt grassiert das Virus besonders in Brennpunkt-RegioProvinzen nen. Besonders herausfordernd ist das in den USA, wo ausgerechnet die kaum kontrollierbare Neun-Millionen-Metropole New York das Epizentrum der Epidemie ist. Schon der Ursprung der Pandemie in China in Wuhan grassierte um einen Hotspot. In Südkorea kennt inzwischen jeder im Land die Geschichte von „Patient 31“. Die Frau soll die Zweimillionenstadt Daegu zum Hotspot gemacht haben.
Sie soll fast täglich große Gottesdienste besucht und trotz Fieber mittags in Buffet-Restaurants gegessen haben. Später fielen bei hunderten Anhänger der Kirchengemeinde Corona-Tests positiv aus. Etwa 80 Prozent aller koreanischen Fälle wurden später direkt auf die Frau zurückgeführt. „Sei nicht wie Patient 31“wurde zum Leitbegriff einer Kampagne in den südkoreanischen Netzwerken.
Auch im französischen Hotspot Elsass gilt ein Treffen der Freikirche „La Porte ouverte chrétienne“im französischen Mulhouse mit rund 2000 Teilnehmern als Ausgang der regionalen Epidemie. Inzwischen ist die Lage im Elsass hochdramatisch. Am Uniklinikum Straßburg würden Patienten über 80 seit vergangener Woche nicht mehr beatmet. Stattund dessen erfolge „Sterbebegleitung mit Opiaten und Schlafmitteln“, schreiben Mitarbeiter des Deutschen Instituts für Katastrophenmedizin in Tübingen, die das Krankenhaus besucht hatten, um von bedrückenden Erfahrungen im Katastrophengebiet zu lernen.
In Deutschland gingen die Hotspots von größeren Festen aus: dem Karneval im nordrhein-westfälischen Heinsberg und einem Starkbierfest eines Burschenschaftsvereins im oberpfälzischen Mitterteich im Landkreis Tirschenreuth. Der bayerische Landkreis gilt mit 360 Infizierten auf 100000 Einwohner und 17 Toten derzeit laut RobertKoch-Institut als die am schwersten betroffene Region in Deutschland. In Heinsberg beträgt der Infizierungsgrad nur ein Fünftel davon. Bayern ist überhaupt auf der RKIKarte am schwersten betroffen.
Inzwischen ziehen die Mediziner erste Konsequenzen daraus, dass sich die Lage außerhalb der Hotspots weniger dramatisch entwickelt: Sie fliegen Patienten aus den Brennpunkt-Regionen zur Behandlung in andere Krankenhäuser aus, auch nach Deutschland. Allerdings fordert der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, mehr Schutz für Senioren und Risikogruppen: „Obwohl sich seit Monaten abzeichnet, welche Menschen hochgefährdet sind, passiert so gut wie nichts für sie.“
„Patient 31“an 80 Prozent der Fälle Südkoreas schuld?