Ein Land zwischen „Krieg“und „Staatsstreich“
Polen Corona-Krise als politischer Brandbeschleuniger: Der Streit um die Präsidentenwahl treibt die Parteien in Warschau in eine Konfrontation
Warschau Im Kampf gegen die Corona-Pandemie führen Politiker weltweit bisweilen das Wort „Krieg“im Mund. Nun bediente sich auch Borys Budka des Ausdrucks. Der Oppositionsführer im polnischen Parlament sprach von einer „Schlacht“, an deren Ende „ein gewonnener Krieg“stehen werde. Allerdings bezog sich der Chef der liberalkonservativen Bürgerkoalition (KO) gar nicht auf das Ringen mit dem Virus. Budka meinte den politischen „Krieg der Polen gegen die Polen“, der nach Ansicht vieler Kommentatoren schon seit Jahren tobt. Das macht die Corona-Lage in Polen so einzigartig: Während fast überall auf der Welt das Virus der Feind Nummer eins ist, fallen in Warschau Parteiführer übereinander her.
Im Zentrum der Fehde steht der Streit um die Präsidentenwahl am 10. Mai. Das Regierungslager unter Führung der rechtsnationalen PiSPartei von Jaroslaw Kaczynski setzte trotz Ausgangbeschränkungen lange darauf, die Wahl wie geplant abzuhalten. Kaczynski wollte seinem Kandidaten, Amtsinhaber Andrzej Duda, der alle Umfragen anführt, den Weg zur Wiederwahl ebnen. Als das wegen der Ansteckungsgefahr in den Stimmlokalen unrealistisch erschien, schlug der PiS-Chef eine reine Briefwahl vor. Das aber gibt es im polnischen Recht nicht. Kaczynski setzte also auf einen offenen Verfassungsbruch. Denn Änderungen am
Wahlrecht sind in den letzten sechs Monaten vor einem Urnengang verboten.
Oppositionsführer Budka bezeichnete die PiS-Pläne als „kranke Ideen von kranken Menschen“. Dennoch brachte Kaczynski den Briefwahlbeschluss nach einer dramatischen Parlamentssitzung durch. Davon konnte ihn auch zäher Widerstand aus den eigenen Reihen nicht abhalten: Jaroslaw Gowin, der eine 18 Köpfe starke
Abgeordnetengruppe innerhalb des Regierungslagers anführt, trat aus Protest als Wissenschaftsminister und Vizepremier zurück. Seine Rebellengruppe stimmte aber größtenteils mit Ja, um einen sofortigen Zusammenbruch der Regierung zu verhindern.
Entschieden ist der „Krieg“um die Präsidentenwahl und die Führung des Landes damit keineswegs. Denn nach dem Sejm, der ersten und wichtigeren Parlamentskammer, hat nun der Senat das Wort, in dem die Opposition eine knappe Mehrheit hat und den Senatspräsidenten stellt. Der kann das Briefwahlgesetz nicht verhindern, aber für 30 Tage aufhalten. Bis zum 6. Mai, vier Tage vor der Wahl. Die PiS hat deshalb die Möglichkeit einer Verschiebung der Abstimmung um eine Woche ins Gesetz geschrieben, also auf den 17. Mai.
Allerdings gibt es Zweifel, ob die
Post die Logistik stemmen kann. So sollen bis zum Wahltag überall im Land gesonderte Briefkästen aufgestellt werden. Dort können die rund 30 Millionen Stimmberechtigten ihre Wahlbriefe einwerfen, die ihnen erst im Extremfall zwischen 7. und 9. Mai zuvor zugestellt werden müssen. Um all das zu garantieren, setzte die PiS einen brisanten Wechsel an der Spitze der Post durch: Vize-Verteidigungsminister Tomasz Zdzikot übernahm die Leitung des staatseigenen Unternehmens.
Malgorzata Kidawa-Blonska, die aussichtsreichste Duda-Herausforderin bei der Präsidentenwahl, kritisierte das als einen „Staatsstreich, um sich die volle Macht für weitere Jahre zu sichern“. Tatsächlich ermöglicht es erst die Kombination aus Regierungs- und Präsidialmacht, die eigene Politik ohne Kompromisse durchzusetzen. Davon profitiert die PiS seit ihrem doppelten Wahltriumph von 2015.
Der Streit zwischen Kaczynski und Gowin zeigt, dass der Zusammenhalt im Regierungslager viel weniger stark ist, als fast alle Experten bis zur Corona-Krise vermuteten. Die regierungskritische Nachrichtenplattform onet.pl schrieb, Gowins Gruppe habe noch immer „alles in der Hand“. Denn sobald der Senat das Briefwahlgesetz an den Sejm zurückweist, besteht dort eine weitere Gelegenheit für die Rebellen, Nein zu sagen. Das wäre das Ende der PiS-Regierung. Und genau auf diesen „Sieg im Krieg“spekuliert Oppositionsführer Budka.
Vizepremier trat aus Protest zurück