Gnade, Geister und Verschwörung
Johann Mühlegg zelebrierte den Skilanglauf wie kein Zweiter. Doch dann vermutete er böse Mächte um sich herum, beschimpfte Trainer als Spiritisten und brach mit Familie und Heimat (Serie, Teil 11)
Kempten Es ist ein Unikum an Wort, das in diesen turbulenten Tagen mitunter die Runde macht, sperrig und mysteriös: Verschwörungstheorie. Ein negativ besetzter Begriff und nicht wirklich greifbar. Ein Wort, das einst auch zum Vokabular des Skilangläufers Johann Mühlegg gehörte. Der lebt seit langem in Brasilien, feiert im November den 50. Geburtstag und hielt in den 1990er Jahren Sport-Deutschland mit einer angeblichen Geisteraffäre in Atem.
Am Anfang war der Erfolg. Ein junger Allgäuer sorgte mit außergewöhnlichen Leistungen für Aufsehen, körperlich robust, mit eisernem Willen und großem Talent. Schon früh zelebrierte Johann Mühlegg den Skilanglauf wie kein Zweiter in diesem Land. 1989 Junioren-Welt- meister, danach bei den Olympischen Winterspielen in Albertville, Lillehammer und Nagano am Start, WMGold in Lahti – ein gefeierter Star. Der Sport schrieb wieder eine dieser märchenhaften Erfolgsgeschichten. Doch dann, 1993, fühlte sich Mühlegg plötzlich verhext, legte sich mit Bundestrainer Georg Zipfel an und vermutete in ihm einen bösen Geist. Der Sportler brach auch mit seiner Familie, mit Freunden, Kollegen – und mit seiner Heimat. Schließlich verkündete der Marktoberdorfer: „Ich bin kein Allgäuer mehr.“Und überhaupt, viele seiner Begleiter hätten sich gegen ihn verschworen und einen Fluch über ihn gebracht, beteuerte er im Interview mit dieser Zeitung. Es folgte 1998 der Rausschmiss aus dem deutschen Team und der Wechsel zum spanischen Skiverband. Höhepunkt der Geisterfahrt: Mühlegg wird 2002 nach drei Olympia-Siegen in Salt Lake City des Dopings überführt. Das einstige Allgäuer Märchen hatte sich vollends zur Tragödie gewandelt.
Wer schuld ist am tragischen Ende? Johann Mühlegg vermutete höhere Mächte und Spiritisten, den erwähnten Bundestrainer und auch Teamkollege Jochen Behle. Man würde ihm die Getränke mit Worten vergiften. Soweit die Verschwörungstheorie. Gleichwohl gab es in seinen Augen eine Rettung vor den bösen Geistern – Justina Agostinho, eine portugiesische Reinemachefrau. Die Begegnung mit ihr empfand er als Gnade, weil sie ihm versicherte: „Ich befreie dich vom Fluch.“Mithilfe des Ewigen Vaters und literweise geweihtem Wasser sollte dies gelingen, erklärte Agostinho der Öffentlichkeit. Unsere Zeitung bekam vor 25 Jahren einen Interviewtermin mit der angeblichen Wunderheilerin in einer Wohnung in München.
Ein trister Nachmittag im Herbst: Es ist kalt und der dienstliche Termin passt zum Thema. Es geht um dunkle Mächte und Hexerei, wie es Johann Mühlegg formuliert. Aber Justina Agostinho wolle diesen die Stirn bieten. Klingeln an der Haustür in einem Mietshaus in Untersendling. Die Tür öffnet sich und Miguel Agostinho führt ins
Wohnzimmer, wo auf der linken Seite ein Altar mit vergoldeter Christusfigur ins Auge sticht. Der Gast solle auf dem Sofa Platz nehMächten men. Seine Frau ziehe sich gerade um, verrät er und erzählt von ihren Kräften. Ein krebskrankes Mädchen habe sie geheilt und einem Ehepaar zu unverhofftem Nachwuchs verholfen. Und: „Das alles macht der Ewige Vater. Er wird gleich zu Ihnen sprechen.“
Zwei Minuten später öffnet sich die Wohnzimmertür. Justina Agostinho, gehüllt in weißes Gewand und kreidebleich im Gesicht, kommt herein. Der Ewige Vater spreche nun, flüstert ihr Mann, seine Frau diene lediglich als Sprachrohr. Schrill hören sich die Worte an und in einer Tonhöhe, die den Ohren wehtun. Die „portugiesische Gnade“spricht eine Viertelstunde. Dann ist sie erschöpft und verabschiedet sich. Ein paar Minuten später kehrt sie ins Wohnzimmer zurück. Mit anderer Stimmlage und demütiger Körperhaltung. Nun hat wieder ihr Mann das Sagen. Plötzlich wird der Termin beendet, der Gast habe genug gesehen. Und er solle keinen Blödsinn in die Zeitung schreiben. Denn auch innerhalb der Medien würde es dunkle Mächte geben, mutmaßt Agostinho. Doch Vorsicht, das könne auch mit einem Fluch beantwortete werden. „Auf Wiedersehen“sagen die Agostinhos nicht.
Johann Mühlegg, der einst so erfolgreiche Skilangläufer aus dem Allgäu, wird später vom Nationalteam ausgeschlossen, vom Deutschen Skiverband suspendiert, des Dopings überführt und von der FIS gesperrt. Deutschland kehrt er endgültig den Rücken.