Obgsagt is?
Olympia, Fußball-EM, Klimakonferenz: Alles gestrichen. Für viele Bayern wäre das halb so wild, solange nicht ihre geliebte Wiesn dem Coronavirus zum Opfer fällt. Aber es sieht nicht gut aus im Moment. München ohne Oktoberfest? Das hat selbst ein gestanden
München Die Münchner Wiesn ist für Ludwig „Wiggerl“Hagn mehr als ein Volksfest und viel mehr als ein Arbeitsplatz. Sie ist sein ganzes Leben. Das hört man sofort heraus, wenn der 80-Jährige mit seiner tiefen Stimme und in breitem Münchner Dialekt von den 65 Jahren als Wiesnwirt erzählt. Von seinem ersten Besuch auf dem Oktoberfest im Jahr 1957 zum Beispiel. „Da gab es noch eine Liliputstadt mit Kleinwüchsigen und eine Wildwestschau mit Indianern zu sehen. Heute unvorstellbar, oder?“Und von den vielen Raufereien früher. „400 Mann, die sich alle geprügelt haben. Aber als nach zehn Minuten die Polizei kam, haben sie sich gegenseitig schon wieder abgeputzt, die Hände geschüttelt und die Stühle aufgestellt.“
Aber es gab auch traurige Tage, die Hagn, der 40 Jahre Geschäftsführer des Löwenbräuzeltes war, miterleben musste. Das Oktoberfest-Attentat im Jahr 1980, bei dem 13 Menschen starben und über 200 verletzt wurden. Oder nach dem 11. September 2001, als nach dem Terroranschlag in New York kaum Menschen das Münchner Volksfest besuchten. „Aber dass das Oktoberfest ganz abgesagt wird, das habe ich noch nie erlebt.“Doch darauf scheint es derzeit hinauszulaufen. Von Tag zu Tag wird es unwahrscheinlicher, dass das größte Volksfest der Welt mit seinen Millionen Gästen in Zeiten der Corona-Krise stattfinden wird.
Nach wie vor breitet sich das Virus in allen Ländern der Erde weiter aus und fordert immer mehr Todesopfer. Weltweit haben Staaten drastische Maßnahmen beschlossen, um die Pandemie zu bremsen, zum Beispiel wurden sämtliche Großveranstaltungen in diesem Jahr abgesagt und auf 2021 verschoben: die Olympischen Spiele in Tokio, die Fußball-Europameisterschaft, die UNKlimakonferenz. Bundesweit sind alle Großveranstaltungen bis Ende August verboten. Das bedeutet auch das Aus für das zweitgrößte Volksfest Bayerns, das Gäubodenvolksfest in Straubing, das am 7. August begonnen hätte. Eine Entscheidung zum Oktoberfest, das am 19. September zum 187. Mal starten soll, ist bisher noch nicht gefallen. Aber die Wiesn wackelt von Tag zu Tag mehr, denn Experten schätzen den Zeitraum bis dahin als zu gering ein, um Medikamente und Impfungen zu entwickeln.
Auch für Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) steht das Volksfest auf der Kippe. Er sagte gegenüber dem Bayerischen Rundfunk: „Ich bin sehr, sehr skeptisch und kann mir aus jetziger Sicht kaum vorstellen, dass eine solch große Veranstaltung überhaupt möglich ist zu dem Zeitpunkt.“Söder betonte, dass eine endgültige Entscheidung noch nicht getroffen sei und dass er sich bis Ende April mit Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) beraten wolle. Eine Absage wäre zwar schade, aber dass die Wiesn stattfindet sei aus jetziger Sicht eher unwahrscheinlich, betonte Söder. Ursprünglich hatte es geheißen, dass eine Entscheidung über eine eventuelle Absage des Volksfestes voraussichtlich Ende Mai oder spätestens Anfang Juni fallen müsse – bevor konkrete Vorbereitungen anlaufen und der Aufbau beginnt.
Derselben Ansicht wie Markus Söder ist auch Clemens Baumgärtner von der Stadt München. Er ist sozusagen der oberste Wiesnchef. „Ich teile die Auffassung vom Ministerpräsidenten, dass es immer unwahrscheinlicher wird, dass die Wiesn stattfinden kann.“Er sei froh, dass man sich in den nächsten beiden Wochen zusammensetzen und das Für und Wider gemeinsam abwägen werde. „Am Schluss wäre ich derjenige, der die Zulassungsbescheide unterschreiben und die Erlaubnis geben würde“, erklärt Baumgärtner. Die Entscheidung könne niemand leichtfertig treffen. Denn einerseits sei es oberste Prämisse, die Gesundheit der Besucher zu schützen. Andererseits müsse er im Hinblick auf die wirtschaftlichen Interessen eine Entscheidung treffen, die absolut richtig und vertretbar sei. Deshalb sei Baumgärtner auch froh, dass man sich noch etwas Zeit nehmen wolle. „Es geht um viel zu viel, als dass wir das im Hauruckverfahren durchziehen.“
Für Ludwig Hagn, der 2019 als Wiesnwirt aufhörte und dessen Tochter die Geschäfte des Löwenbräuzeltes übernommen hat, wäre es eine verständliche Entscheidung. „Aus gesundheitlichen Gründen. Aber es wäre ein unfassbarer wirtschaftlicher Schaden für die Schausteller, die Bedienungen, die Wirte. Einfach für alle, die an der Wiesn beteiligt sind.“Genauso sieht es auch Wenzel Bradac, Präsident des Bayerischen Landesverbandes der Marktkaufleute und der Schausteller: „Wir sind total gegen voreilige Absagen und hoffen, dass die Wiesn stattfindet. Denn für die Münchner Schausteller ist das Oktoberfest existenzerhaltend.“Es geht um eine Menge Geld.
Das Referat für Arbeit und Wirtschaft der Stadt München als Veranstalter hat berechnet, dass rund um das Münchner Volksfest im Schnitt ungefähr 1,23 Milliarden Euro fließen. Rund 6,3 Millionen Besucher geben an 16 Tagen der Wiesn im Schnitt etwa 442 Millionen allein auf dem Oktoberfest aus. Für Übernachtungen, Einkäufe, Taxifahrten und öffentliche Verkehrsmittel werden in der Stadt München noch einmal 790 Millionen Euro ausgegeben. Darin eingerechnet sind allerdings noch nicht einmal die Umsätze, die im gesamten Ballungsraum im Zusammenhang mit der Wiesn gemacht werden.
Schausteller, Wirte, Bedienungen, aber auch Hoteliers, Handwerker, Einzelhändler und Taxifahrer sind von diesen Einnahmen abhängig. „Das ist aber bei jedem Volksfest so“, sagt Hagn. „Auch beim Augsburger Plärrer. Das Geschäft wird nicht nur auf dem Fest, sondern in der ganzen Stadt und im gesamten Großraum gemacht.“
Wie groß der finanzielle Schaden tatsächlich sein könnte, lässt sich nur erahnen. Fragt man bei Wirten, bei Schaustellern, bei Zeltbauern nach, trifft man auf eine Mauer des Schweigens. Die Situation sei heikel, heißt es dann lediglich, Spekulationen gebe es viele und man wolle diese nicht noch zusätzlich anfeuern. Deshalb wolle man das Thema Wiesn derzeit nicht kommentieren.
Einer, der redet, ist Ludwig Hagn. „Wenn die Wiesn ausfällt, geht es nicht nur um den Schaden von diesem Jahr. Bis man die Wiesn wieder so aufbaut, wie sie einmal war, könnte es lange dauern.“Es brauche seine Zeit, bis wieder so viele Besucher aus aller Welt kämen wie bisher und bis sich auch die Schausteller von der Krise erholt hätten.
Hagn geht es aber nicht nur um das Wirtschaftliche, sondern auch um das Emotionale. „Wir sind eine große Familie. Das können nur die verstehen, die die Wiesn schon mal erlebt haben. Der, der noch nie auf dem Oktoberfest war, dem kann man das nicht erklären.“Der typische Münchner zum Beispiel, sagt Hagn, sei ein Grantler. Er beschwere sich das ganze Jahr über den Gestank und die vielen Menschen am Oktoberfest. Und dann im September sei er jedes Jahr doch wieder da und feiere alle 16 Tage durch. „Genauso ist’s mit den Bedienungen. Wenn die Wiesn rum ist, will keiner je wieder dort arbeiten. Alle beschweren sich über die Besoffenen und die Grapscher. Und dann sagen doch wieder alle zu.“209 Bedienungen hätten im Jahr 2019 für Hagn gearbeitet, 208 von ihnen hätten wieder für 2020 zugesagt. „Wehe, sie kriegen keine Weihnachtskarte, dann steht das Telefon nicht mehr still.“
Viele Bedienungen habe er in den Jahrzehnten auf der Wiesn kennengelernt, manche sogar in den Jahren als die Musiker noch keinen Verstärker brauchten und das Auf-derBierbank-Schunkeln bei den Gästen absolut verpönt war. „Ich habe drei Doktorandinnen, eine Frau, die jedes Jahr extra aus Hamburg kommt. Meine älteste Kellnerin war 80 Jahre alt, die hat immer zusammen mit ihrer Tochter und zwei Enkelinnen bedient.“Und als eine seiner langjährigen Bedienungen verstarb, fuhr Hagn nach Mühldorf zur Beerdigung. „Und am Grab standen zwölf von ihnen Spalier für ihre Kollegin, in Dirndl und Schürze. Da stellt’s dir die Haar auf!“Clemens Baumgärtner von der Stadt München weiß ganz genau, was Ludwig Hagn damit sagen will: „Die Wiesn hat etwas Identitätsstiftendes. Sie gehört zur Münchner Gemütlichkeit und hat eine Strahlkraft in die ganze Welt.“
Wenn die Absage in den kommenden zwei Wochen tatsächlich beschlossen wird, wäre das für alle Mitwirkenden tragisch und für viele existenzbedrohend – aber es wäre nicht das erste Mal in der über 200-jährigen Geschichte, dass das Volksfest nicht stattfinden kann. Zum ersten Mal hatte die Stadt München 1810 das Oktoberfest gefeiert, anlässlich der Hochzeit von Kronprinz Ludwig mit Prinzessin Therese von Sachsen-Hildburghausen, später das Königspaar von Bayern. Bereits 1813 musste das Volksfest zum ersten Mal ausfallen – wegen der Kämpfe mit Napoleon.
Ein paar Jahrzehnte später grassierte dann die Cholera, sowohl 1854 als auch 1873 wurde das Fest wegen der Seuche abgesagt. Auch Königin Therese, zu deren Ehren die Wiesn zum ersten Mal stattgefunden hatte und nach der das Festgelände, die Theresienwiese, benannt ist, gehörte zu denen, die an der Cholera starben. Auch 1866 wurde wegen des preußisch-österreichischen Krieges kein Münchner Volksfest gefeiert. Ebenso während des Ersten Weltkrieges, von 1914 bis 1918 wurde nicht gefeiert. 1923 wiederum fiel das Volksfest wegen der Hyperinflation aus, ebenso in den Jahren des Zweiten Weltkriegs. Erst 1949 ging es wieder richtig los. „Seit diesem Zeitpunkt musste das Oktoberfest nie wieder abgesagt werden“, heißt es auf dem Portal der Stadt München, „wir hoffen, dass das so bleibt.“
Der ehemalige Wiesnwirt Ludwig Hagn will die Hoffnung bis zum Schluss nicht aufgeben, dass das größte Volksfest der Welt doch noch stattfinden kann. „Die Frage ist nur: Wie? Wie soll man bitte im Bierzelt zwei Meter Abstand halten?“Dann eben nur ganz oder gar nicht. Ähnlich sieht es auch Clemens Baumgärtner: „Die Wiesn ist die Wiesn, die wollen die Menschen nur mit allem Drum und Dran.“
„Wenn die Wiesn ausfällt, geht es nicht nur um den Schaden von diesem Jahr.“Ex-Wiesnwirt Ludwig Hagn
„Die Wiesn ist die Wiesn, die wollen die Menschen nur mit allem Drum und Dran.
Wiesnchef
Clemens Baumgärtner