Ein Leben in Traurigkeit
Vor 100 Jahren starb Sophie Brecht, die Mutter von Bertolt Brecht
Ihr Sohn ist als Weltschriftsteller in die Literaturgeschichte eingegangen, sein Leben ist umfassend erforscht, über sie als Mutter weiß man wenig. Am 1. Mai jährt sich der Tod von Brechts Mutter Sophie zum hundertsten Mal. Anlass, um an die Frau zu erinnern, die 1898 Augsburgs berühmten Sohn zur Welt gebracht hat.
Sie wurde 1871 im württembergischen Roßberg bei Bad Waldsee geboren und wuchs in einem protestantischen Beamtenhaushalt auf. Laut ihrem Notizbuch muss sie Ende der 1880er Jahre eine hauswirtschaftliche Schule besucht oder eine Berufsausbildung zur Näherin absolviert haben. Ebenso geben ihre Aufzeichnungen Auskunft über zwei frühere Wohnsitze in Cannstatt und Esslingen. 1893 wohnte sie vorübergehend bei ihrer Schwester Amalia in Augsburg, wo sie ihren späteren Ehemann Berthold Friedrich Brecht kennenlernte. Einen Tag vor der Hochzeit im Mai 1897 bezog das junge Paar das Haus „Auf dem Rain 7“, in dem 1898 Brecht zur Welt kam. Ein halbes Jahr später zog die Familie in das Haus „Bei den Sieben Kindeln 1“und 1900, kurz nach der Geburt des zweiten Sohnes Walter, in eines der Stiftungshäuser der Firma Haindl, in der „Bleichstraße 2“.
Lange meinte man, dass Sophie Brecht eine schöngeistige Frau war, die das künstlerische Talent ihres älteren Sohnes gefördert hatte und im
Alter von 48 Jahren an Brustkrebs starb. Erst ihr 2009 wiederentdecktes Notizbuch, das tagebuchartige Einträge, eigene lyrische Entwürfe sowie eine Reihe an sentimentalen Liebesgedichten enthält, verriet weitere Details über ihr Leben. So dokumentieren die über Jahre gesammelten oder selbst verfassten Texte eine kontinuierliche Traurigkeit. Wiederkehrende Begriffe wie Leid, Kummer, Sorge und Schmerz nehmen auffallend viel Raum ein und lassen einen markanten melancholischen Tenor erkennen.
Auch das Verhältnis zwischen den Eheleuten war vermutlich nicht so ungetrübt, wie es Walter Brecht in seinen Erinnerungen zu vermitteln versucht. Vieles spricht dafür, dass es aufgrund von Sophie Brechts „Untüchtigkeit“zu Konflikten kam. Anzeichen von Lethargie und Überforderung im Alltag sind schon zu einer Zeit auszumachen, als die Kinder noch klein waren. Die Mutter lag offenbar häufiger tagsüber im Bett und beklagte sich trotz der Dienstmädchen über die viele Arbeit.
Ungewiss ist, ob es sich hierbei bereits um frühe Symptome ihrer Krebserkrankung handelte. Wahrscheinlicher ist, dass ihrem organischen Leiden eine psychische Erkrankung in Form einer Depression entweder vorausging oder es zumindest begleitete. Ein Ohnmachtsanfall, der in der Familie rückblickend als erstes Zeichen ihres Krebsleidens gedeutet wurde, ereignete sich jedenfalls erst später. Außerdem wurde auf ihrem Totenschein vermerkt, dass sie nach (nur) zweijähriger Krankheit an Brustkrebs verstorben sei. Auch in Brechts Werken finden sich Bemerkungen wie: „Meine Mutter zählt bald 50 Jahr / Von denen dreißig sie im Sterben war.“Freilich sind diese Verse nicht wörtlich zu verstehen, deutlich aber wird, dass auch der Sohn von der fortwährend betrübten Gemütslage seiner Mutter Notiz nahm.
Um Sophie Brecht im Haushalt zu entlasten, wurde im April 1910 die Hausdame Marie Röcker eingestellt. Da die Mutter zwischen ihr und ihrem Mann prompt ein intimes Verhältnis vermutete, musste sie im Mai schon wieder gehen. Röcker kehrte zunächst in ihre Heimatstadt Ulm zurück, wohnte aber ab 1914 wieder in Augsburg, diesmal in der Rosenaustraße, wo sie häufig Besuch von Brechts Vater erhalten haben soll. Im Juni 1918 kehrte sie in den brechtschen Haushalt zurück, um die zunehmend von ihrer Krankheit gezeichnete Mutter zu pflegen, die sich der nun permanenten Anwesenheit Röckers wohl nicht mehr erwehren konnte. Diese verblieb bis zum Tod des Vaters 1939 im Hause Brecht und wurde in dessen Testament mit 12000 Mark bedacht.
Am Abend des 1. Mai 1920 starb Sophie Brecht in der Wohnung in der Bleichstraße im Beisein ihrer Familie. Wie schwer Brecht der Abschied von seiner Mutter fiel, zeigen zahlreiche Texte, in denen er ihren Tod literarisch verarbeitet. Dass er tags darauf seine Freunde in die Mansarde einlud und es lärmend zuging wie sonst, oder er am 5. Mai ihrem Begräbnis auf dem Protestantischen Friedhof fernblieb, ist in erster Linie als Protest gegenüber der Heuchelei seiner Familie anzusehen, die das Verhältnis des Vaters mit der Hausdame vollständig verschwieg. Später besuchte Brecht, wie er notierte, ihr Grab aber regelmäßig: „Daheim ist es still. Ich gehe immer auf den Friedhof, und ich bin gern dort.“
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Benedikt Plöckl ist Doktorand an der Universität Bamberg mit einer Arbeit zu den Mutterfiguren in Brechts Werk.