Zu viel der Globalisierung?
In Brüssel rechnet die Kommission mit einem Einbruch der Wirtschaftsleistung in Europa von zehn Prozent. Doch die EU denkt bereits über die Handelspolitik nach Corona nach. Soll man sich ins Nationale zurückziehen?
Brüssel In der Europäischen Kommission wird derzeit noch fleißig gerechnet. Ende kommender Woche will die Brüsseler Behörde ihre nächste Konjunkturprognose vorlegen. Intern ist von einem Einbruch der europäischen Wirtschaft um rund zehn Prozent die Rede – und selbst das ist noch abhängig davon, wie lange sich die Einschränkungen durch die Coronavirus-Krise hinziehen. Die Welthandelsorganisation (WTO) hat sich bereits vorgewagt: Dort geht man von einem Rückgang des weltweiten Warenhandels in diesem Jahr zwischen 13 und 32 Prozent aus – je nachdem. Als Grund nennen alle Experten nicht nur den Stillstand der Unternehmen, sondern vor allem den Zusammenbruch der Lieferketten.
Es sei, so heißt es bei den Handelsexperten im Umfeld der Kommission, die Konsequenz aus einer global agierenden Wirtschaft, die beim Ausbruch der Krise reflexartig mit protektionistischen Maßnahmen gestoppt und beschädigt wurde. Das International Trade Center stellte fest, dass bis zum 2. April in 60 Ländern Exportbeschränkungen für wichtige Güter zur Bekämpfung der Pandemie erlassen wurden – zählen medizinische Schutzausrüstungen, aber auch landwirtschaftliche Güter. „Es gibt einen kaum zu überwindenden Impuls, zunächst national zu handeln“, schreibt der Vorsitzende des gewichtigen Handelsausschusses im EU-Parlament, Bernd Lange (SPD), in einem Memorandum. Er will die Diskussion in die richtigen Bahnen lenken. Seine Analyse: „Der Zusammenbruch der Lieferketten ist auch eine Folge einer auf Kostenabbau und Effizienz reduzierten Globalisierung, die zu dramatisch einseitigen Abhängigkeiten geführt hat.“
Tatsächlich finden solche Veränderungen von Produktionsprozessen aber schon länger statt, das Virus hat sie nur verschärft. Als Beispiel verweist Lange auf die Digitalisierung, die die bestehende Arbeitsteilung und in der Folge auch die gängigen Lieferketten infrage gestellt habe. Ein Unternehmen wie der Elektroauto-Hersteller Tesla baue zentrale Teile seines Modells „3“in Eigenregie – ohne Zulieferung von anderen Betrieben. Das garantiere Unabhängigkeit. Der Trend werde sich jetzt noch verstärken, heißt es in Langes Papier: „In der Vergangenheit haben Unternehmen die Zahl ihrer Lieferanten reduziert, mit der Folge, dass sie heute für bestimmte Teile und Systeme nur noch einen einzigen Zulieferer haben.“Die Konsequenz hatte Europa schon vor der Krise zu spüren bekommen: In China produzierte Wirkstoffe für Medikamente wurden knapp, über 200 Präparate waren in der EU kaum noch zu bekomdazu men. Das Gleiche erlebte die Gemeinschaft nach dem Ausbruch der Pandemie bei Atemmasken. „Neu gedacht werden müssen nun die globalen Lieferbeziehungen insbesondere in der Gesundheits- und Autoindustrie“, erklärte der französische Finanzminister Bruno Le Maire vor wenigen Tagen. „Wir können nicht weiterhin bei pharmazeutischen Wirkstoffen zu 80 bis 85 Prozent von China abhängig sein.“Sollten die Staaten nun ihrem Impuls folgen und zusätzliche Kapazitäten in der eigenen Region aufbauen, bekämen dies vor allem die Entwicklungsund Schwellenländer zu spüren. Der Bankenverband Institute of International Finance (IIF) beziffert die Summe des Kapitals, das alleine im März 2020 aus diesen Staaten abgezogen wurde, auf rund 76,7 Milliarden Euro. Innerhalb von nur einer Woche stornierten Textilfirmen aus aller Welt Aufträge im Wert von etwa 1,48 Milliarden Euro an Unternehmen in Bangladesch – für das ohnehin arme Land eine Katastrophe.
Dennoch könnte, so steht es in der Denkschrift Langes weiter, der Wiederaufbau des weltweiten Handels eine Chance sein. Denn die Lieferketten der Zukunft müssten stabiler, sicherer und fairer ausgestaltet werden. Dazu gehöre die Garantie von Arbeitnehmerrechten ebenso wie eine ordnungsgemäße Planung von Aufträgen mit sicherer Zahlung und Einhaltung zum Beispiel einer CO2-neutralen Produktion. Sein Fazit: „An einem multilateralen System führt kein Weg vorbei.“Die Handelspolitik wird sich verändern, offen ist nur, in welche Richtung.