Corona hält die Justiz in Atem
Mehr als 1000 Klagen gegen Infektionsschutzmaßnahmen vor Verwaltungs- und Verfassungsgerichten. Staatsrechtler befürchtet eine „zweite Welle“an Verfahren, wenn es jetzt um die Lockerungen geht
Berlin Die Corona-Maßnahmen von Bund und Ländern haben den deutschen Gerichten eine Menge Arbeit beschert. Gegen Maskenpflicht, Versammlungsverbote oder Reisebeschränkungen gingen zahlreiche Klagen ein. In den allermeisten bislang entschiedenen Fällen haben die Infektionsschutzmaßnahmen der Überprüfung standgehalten, so eine erste Bilanz von Rechtsexperten. Wenn es jetzt ums Lockern der Einschränkungen geht, könnte es dagegen deutlich schwieriger werden. Weil die einzelnen Bundesländer dabei völlig unterschiedlich vorgehen, droht auch vor den Gerichten Wirrwarr.
Deutlich mehr als 1000 Eilverfahren haben die deutschen Verwaltungsund Verfassungsgerichte im Zusammenhang mit der CoronaPandemie erreicht, so der Deutsche Richterbund (DRB). Bundesgeschäftsführer Sven Rebehn sagt: „Die Verfassungs- und Verwaltungsgerichte erweisen sich in der Corona-Krise als wirksames Korrektiv für zu weitgehende Beschränkungen. Je länger die Einschränkungen anlässlich der Pandemie dauern, desto engmaschiger sind sie von den zuständigen Bundesländern zu überprüfen.“Die von der Verfassung gebotene Verhältnismäßigkeit müsse bei allen Maßnahmen auch in Krisenzeiten der Kompass politischen Handelns sein. Darauf die Verfassungs- und Verwaltungsgerichte weiterhin ein waches Auge haben.
Genaue Zahlen, in wie vielen Fällen die Corona-Klagen erfolgreich waren, gibt es noch nicht. Zudem ändern sich auch die Regeln etwa zu Kita-Notbetrieb, Geschäfts- und Restaurantöffnungen oder Reiseverboten ständig. Viele Klagen werden dadurch obsolet. Der renommierte Staatsrechtler Ulrich Battis zieht folgendes Zwischenfazit: „Der Lockdown war gerechtfertigt, die
der Landesregierungen in Absprache mit der Bundeskanzlerin haben der gerichtlichen Überprüfung zum allergrößten Teil standgehalten. Wie sich zeigt, waren die Befürchtungen mancher Kritiker, jetzt werde die Diktatur eingeführt, völlig überzogen.“
Zu den Corona-Maßnahmen, die zu Klagen führten, zählte etwa die Ladenflächen-Obergrenze von 800 Quadratmetern. Aus Infektionsschutzgründen sollten Läden, die diese Schwelle überschreiten, gewürden schlossen bleiben, während kleinere öffnen durften. Dagegen klagten zahlreiche Firmen – und bekamen auch recht – unter anderem vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof. Anfang Mai kippten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten der Länder die Regel dann ganz. Vereinbart wurde, dass der Einzelhandel unabhängig von der Verkaufsfläche öffnen darf. Sven Rebehn vom Richterbund betont: „Der Rechtsstaat bleibt auch während der AusAnordnungen nahmesituation der Pandemie voll handlungsfähig. Die Justiz gewährt Bürgern und Unternehmen trotz aller Schwierigkeiten effektiven Rechtsschutz.“
Für den Rechtsexperten Ulrich Battis steht nun der Beginn einer zweiten, möglicherweise deutlich problematischeren Klagewelle bevor: „Jetzt werden die tiefgreifenden Eingriffe in die Grundrechte schrittweise wieder aufgehoben, das wird auch rechtlich zu schwierigen Abwägungen führen.“Denn in den einzelnen Bundesländern, so Battis, würden die Lockerungen ja ganz unterschiedlich gehandhabt. Das führe zwangsläufig auch zu unterschiedlicher Rechtsprechung. Thüringen etwa will die Maßnahmen schon bald weitgehend beenden und wird dafür unter anderem aus Bayern heftig kritisiert. Insgesamt sei die Tendenz klar, sagt Battis: „Grundrechte kommen wieder stärker zur Geltung, das zeigt etwa die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Religionsfreiheit. Wie man am Beispiel Frankfurt sieht, wo es nach einem Gottesdienst einen neuen Corona-Ausbruch gab, kann das katastrophale Folgen haben.“Für Battis ist klar: „Die Grundrechte haben die ganze Zeit gegolten, sie waren nur eingeschränkt, jetzt kehren wir zur Normalität zurück. Es sei denn, es kommt zu einer zweiten Infektionswelle – dann geht alles wieder von vorne los.“