Aichacher Nachrichten

Wie findet man sich blind im Internet zurecht?

Reportage Claudia Böhme ist von Geburt an stark sehbehinde­rt. Mit einer Sprachhilf­e bewegt sie sich durchs Internet. Sie erklärt, wie das funktionie­rt – und wo es Probleme gibt

- VON ANNA KATHARINA SCHMID

Der aufgeklapp­te Laptop gibt undeutlich­e Laute von sich. Ab und an klingen einzelne Silben hervor, der Rest verschwimm­t zu einem Rauschen. Auf dem Bildschirm ist kaum etwas zu erkennen, die Helligkeit ist gedimmt. Das Rätsel löst sich erst, als Claudia Böhme übersetzt.

„Das ist der Text“, sagt die 50-Jährige. „In ganz hoher Geschwindi­gkeit vorgelesen.“Für ungeübte Ohren sind nur einzelne Worte zu verstehen, die das Programm wie kleine Schüsse abfeuert: „Anzeige. Anzeige. Anzeige. Grafik.“Böhme zuckt mit den Schultern und lacht: „Ich bin da langsam, manche können noch viel schneller hören.“

Kaum jemand kann sich der unendliche­n Weite des Internets entziehen. Familienbi­lder auf Facebook ansehen, einen neuen Kollegen suchen. Kurz googeln, wie man seinen alten Laptop schneller macht, das Wetter für morgen checken. Durch Instagram scrollen, auf Youtube über Komiker lachen. Eine wilde, farbenfroh­e Mischung. Nimmt man die Farben, die Bilder und die Grafiken weg, gelangt man in Claudia Böhmes Welt. Die Augsburger­in mit den blauen Augen ist seit ihrer Geburt stark sehbehinde­rt. Sie kann sich noch an die Zeit ohne Internet erinnern. Trotz mancher Probleme und unübersich­tlicher Webseiten ist sie heute froh, es zu haben: „Es macht vieles einfacher.“

In Deutschlan­d gibt es etwa 500.000 Menschen, die mit einer Sehbehinde­rung leben. Das sei nur eine Schätzung, da die Zahlen offiziell nicht erfasst werden: „Die Dunkelziff­er liegt wahrschein­lich höher“, sagt Böhme. Die Zahl an Menschen in Deutschlan­d, die als blind gelten, wird auf 150.000 geschätzt. Böhme leitet seit November die Bezirksgru­ppe Schwaben Augsburg des Bayerische­n Blinden- und Sehbehinde­rtenbunds. Der Verein hilft bei der Beantragun­g von Blindengel­d und berät über mögliche Hilfsmitte­l. In normalen Zeiten organisier­t er auch Ausflüge und Treffen. In Augsburg hat der Verein etwa 700 Mitglieder, in ganz Bayern 8000.

Böhmes Handy gibt einen Ton von sich. Sie hält das iPhone nah an ihr linkes Auge. Auf diesem sieht sie etwa sieben Prozent, auf dem anderen nichts. „Meine Art zu sehen ist, als würde man inmitten einer Torte stehen“, erklärt sie und macht eine kreisförmi­ge Bewegung. „Aus dieser Torte ist ein schmales Stück herausgesc­hnitten. Das Stück kann ich sehen – alles andere, auch das außerhalb der Torte, ist schwarz.“

Draußen verwendet Böhme ausschließ­lich den Langstock, um sich zurechtzuf­inden. „Die Leute finden es gar nicht lustig, wenn ich sie anremple.“Die 50-Jährige schmunzelt. „Viele fühlen sich total veräppelt und glauben mir nicht, dass ich sie wirklich nicht gesehen habe.“Böhme war eine Frühgeburt und kam in der 30. Schwangers­chaftswoch­e auf die Welt. Um frühgebore­ne Babys beim Atmen zu unterstütz­en, bekommen sie zusätzlich­en Sauerstoff. Dieser könne bei den oft nicht ganz entwickelt­en Augen der Kinder die Netzhaut angreifen, erklärt die Augsburger­in. Das sei bei ihr passiert.

Frühgebore­ne Kinder haben zwar nach wie vor ein Risiko für Augenerkra­nkungen. Doch die Fälle werden immer weniger, sagt Böhme. Das zeige sich auch am Beispiel des Blinden- und Sehbehinde­rtenbunds in Augsburg. Ein Großteil der Mitglieder sei über 60, die meisten von ihnen litten unter altersbedi­ngten Sehbehinde­rungen. Internet und Digitalisi­erung allgemein sind im Verein ein großes Thema. „Wir machen uns für Barrierefr­eiheit stark“, sagt Böhme. Barrierefr­eiheit ist ein großes Wort, oft verwendet und selten erklärt. Was für Gebäude und Straßen logisch erscheint, lässt sich nicht direkt auf das Internet übertragen. Was macht barrierefr­eie Webseiten aus? „Übersichtl­ichkeit ist das Wichtigste“, sagt Böhme. Barrierefr­eie Inhalte sollen allen Menschen einen Zugang ermögliche­n. Also etwa auch gehörlosen Personen oder Menschen mit altersbedi­ngten, kognitiven oder motorische­n Einschränk­ungen.

Böhme drückt eine Tastenkomb­ination, der Mauszeiger landet im Suchfeld von Google. „Manche Internetse­iten machen es mir nicht leicht, an Infos zu kommen“, sagt die Augsburger­in. Sie tippt in das Suchfeld, der Laptop gibt abgehackte Buchstaben von sich: „N-A-T-I-O-N-A-L-P-A-R-K“. Die Ergebnisse erscheinen, Böhme hört sie sich von oben nach unten an. Sie öffnet eine Seite, hört von Feld zu Feld, von oben nach unten. Die Sprachfunk­tion des Gerätes trägt alles vor, was auf dem Bildschirm auftaucht, auch Fotos und Werbungen. „Ich kann keine Inhalte überspring­en“, sagt sie. Das wird ihr manchmal zum Verhängnis – etwa, wenn sie eine Seite zurück möchte und die Inhalte erneut von oben an durchgehen muss. Der Screenread­er, den sie verwendet, ist eine Leistung der Krankenkas­se, ebenso wie die Einführung dazu. „Ich komme eigentlich gut klar“, sagt Böhme. „Aber manche Seiten sind einfach unübersich­tlich gestaltet.“Sie nutze das Internet nicht so ausgiebig wie andere, aber regelmäßig. Sie googelt Museen und Ausstellun­gen, bestellt Tee und bucht ihre Zugfahrten und Reisen.

Böhme öffnet die Seite des Blindenund Sehbehinde­rtenbunds. Eine klare Überschrif­t und Struktur helfen ihr, sich zurechtzuf­inden. Die Schrift hebt sich farblich vom Hintergrun­d ab und ist so groß, dass

Böhme sie lesen kann, wenn sie nah an den Bildschirm rückt. Da sie keine Maus benutzt, navigiert sie mit der Tastatur über die Seite und springt von Element zu Element: „Eine sinnvolle Reihenfolg­e ist hier gut.“Was sie besonders ärgert, sind Fotos ohne Beschreibu­ng. „Da sagt er mir dann beispielsw­eise nur Grafik und eine endlos lange Zahl“, sagt Böhme. „Was soll das sein?“Eine verpflicht­ende digitale Barrierefr­eiheit gibt es seit September 2018: die EU-Richtlinie 2016/2102. Sie gilt derzeit nur für Internetse­iten und Apps öffentlich­er Stellen, etwa von Bund, Ländern und Gemeinden, Hochschule­n, Krankenkas­sen und dem Öffentlich­en Nahverkehr.

In der Bezirksgru­ppe des Bayerische­n Blinden- und Sehbehinde­rtenbunds, die Claudia Böhme leitet, möchte sie sich stärker der Digitalisi­erung widmen und sich für Barrierefr­eiheit im ganzen Internet einsetzen. „Blinde nutzen es genauso. Wir sind vielleicht langsamer als sehende Menschen, aber wir dürfen nicht abgehängt werden.“

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Foto: Anna Katharina Schmid Claudia Böhme ist seit ihrer Geburt stark sehbehinde­rt. Damit sie Internetse­iten nutzen kann, verwendet sie einen Screenread­er.

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