Der Blaumacher
David Kremer stellt im Allgäu seltene Farbtöne her. Pigmente, so wertvoll wie Edelsteine. Heute beliefert er den Vatikan und weltberühmte Künstler. Doch alles begann, als Kremers Vater in seinem Keller ein strahlendes Blau vor dem Verschwinden rettete
Aichstetten Ein schäumender Ozean. Eine Flut der Blautöne. Der Betrachter muss aufpassen, dass er nicht von den Wellen weggetragen wird, die der Künstler Miquel Barceló im Saal für Menschenrechte am Genfer Sitz der Vereinten Nationen geschaffen hat. Die Kunstwelt feierte das Kuppelwerk bei der Eröffnung übermütig als Sixtinische Kapelle des 21. Jahrhunderts – und die Pigmente für das Kunstwerk stammen aus einer Farbmühle im Allgäu, etwa fünf Autostunden entfernt von Genf.
Die Ausfahrt nach Aichstetten im Landkreis Ravensburg liegt an der A96 zwischen München und Lindau. Der gleichnamige Autohof bietet Schnellrestaurant, Motel und Tankstelle. Dass um die Ecke die Produktionsstätte des Weltmarktführers
für historische Farbpigmente liegt, weiß kaum einer.
Doch schon die Krokusse im Beet vor der Farbmühle bieten die erste Farbexplosion. Dunkle Erde, lilablaue Blüten, zwei blaue Torpfosten flankieren die Einfahrt in den Hof der ehemaligen Getreide- und Sägemühle, deren Anfänge ins 17. Jahrhundert reichen. Mönche aus St. Gallen nutzten die Kraft der Aitrach, um Getreide zu mahlen. Heute treibt der Bach eine Turbine an, um Rohstoffe aus aller Welt zu feinem Farbpulver zu verarbeiten.
David Kremer, breite Koteletten, dunkelblaue Mütze und schwarze Jeans, führt das Familienunternehmen. „Georg Kremer Farbmühle“steht in blauen Lettern auf dem historischen, dreistöckigen Gebäude. Georg Kremer ist der Firmengründer und der Vater des 37-jährigen David. Zwei Stiere vervollständigen den Schriftzug. „Der Stier ist das Attributstier des Heiligen Lukas“, erklärt David Kremer. Der Evangelist gilt als Schutzpatron der Künstler. Vermutlich beschützt er auch Pigmentmacher.
Die Stiere sind blau. Natürlich. Mit dieser Farbe hat schließlich alles begonnen. Ein Freund von Georg war auf der Suche nach einem blauen Pigment, das es seit Anfang des 20. Jahrhunderts nicht mehr zu kaufen gab. Der Restaurator bat den promovierten Chemiker um Hilfe. Kremer schaffte es, in der Farbküche im heimischen Keller den historischen Farbton zu rekonstruieren. Es war der Beginn eines Farbimperiums. Aus drei Mitarbeitern wurden über 40, Läden in München und Manhattan folgten.
Für das Decken-Kunstwerk in Genf waren Millionen Pigmente nötig – ebenso wie im 15. Jahrhundert für die Sixtinische Kapelle im Vatikan. Fein gemahlenes und unlösliches Pulver aus Edelsteinen, Pflanzen und Erden: Seit knapp 40 Jahren produziert das Familienunternehmen Kremer solchen Pigmentstaub. Tonnenweise lieferte es Pigmente zu Barceló in die Schweiz. Aber auch die Restauratoren der vatikanischen Museen ordern ihre Farben im Allgäu. Künstler, Restauratoren und Kunsthandwerker aus aller Welt verwenden die Farbpigmente. Die renommiertesten Museen gehören zu Kremers Kunden: der Louvre in Paris, das Prado in Madrid, die National Gallery in London und das Museum of Modern Art in New York.
David Kremer spricht leise, bedacht und dialektfrei. Als er ein Jahr alt war, sind seine Eltern ins beschauliche Aichstetten gezogen und haben gemeinsam mit seinem Onkel und seiner Großmutter die leer stehende Mühle renoviert. „Die Aichstettener dachten, die Städter kommen“, sagt er. Der Gedanke daran, wie die Dorfbewohner auf die Pigmentmacher aus Tübingen reagierten, lässt ihn heute schmunzeln. „Für mich ist Aichstetten Heimat.“
Gläser voll bunter Pigmente füllen heute die Regale im Ausstellungsraum. Glas an Glas, Farbton an Farbton. Über 1500 Pigmente stellt Kremer inzwischen in der Farbmühle her. Darunter viele, die ohne das Allgäuer Unternehmen nicht mehr verfügbar wären. Sie wären einfach verschwunden, vielleicht für immer.
Das wäre ein großer Verlust für Restauratoren. Bei ihrer Arbeit steht das Erhalten im Fokus. Sie wollen nichts Neues schaffen, sondern das Bestehende konservieren.
dies zu erreichen, verwenden sie die historischen Farbstoffe – eben jene Farben, die einst die Künstler nutzten. In den Werkstätten der großen Museen arbeiten Chemiker und Restauratoren eng zusammen. Sie untersuchen die historischen Farbschichten mit modernster Technik. Kremer stellt die Pigmente nach der alten Lehre wie in der Antike, in der Renaissance oder im Barock her.
Die Arbeitsschritte vom Rohstoff zum Farbpigment sind fast immer gleich. In der Mahlstube wird der feine Farbstaub hergestellt. Der Produktionsraum ist gerade für eine Person groß genug, um darin gut arbeiten zu können. Dennoch ist er das Herz der Farbmühle. In einem gusseisernen Mörser, der auf einem Baumstamm steht, wird der Rohstoff grob zerkleinert. Elektrische Mühlen und Siebe übernehmen die feineren Mahlgänge. Maschine steht an Maschine. Moderne Technik ermöglicht historische Pigmente. Der junge Mann, der heute die Farbpigmente herstellt, ist gelernter Bäcker. Eine spezielle Ausbildung gibt es für den Job nicht. „Jeder kann bei uns mitarbeiten“, erklärt Kremer.
Ein blauer Dunst umhüllt ihn. Kremer raucht selbstgedrehte Zigaretten. Er lebt mit seiner spanischen Ehefrau und seinen vier Söhnen in dem 2800-Seelen-Dorf im badenwürttembergischen Allgäu. In Berlin studierte er Fotografie. Vor allem Bildkomposition interessierte ihn. Auf die Frage, ob er ein besonKremer deres Gespür für Ästhetik habe, antwortet er: „Den Blick für das Schöne hat jeder.“
Was nicht jeder hat, ist Kremers Sinn für Farbstoffe. Er ist Jäger und Sammler. Er jagt nach den schönsten Farbtönen und sammelt sie für die Kunstwelt. Während einer Islandreise entdeckte er drei neue Erdfarben, die er inzwischen ins Sortiment aufgenommen hat. Der isländische Boden bietet viele farbige Schätze. Mit Spaten und Eimer schaufelte und schürfte Kremer nach neuen Tönen. Was er in der Erde erkennt, würden die meisten übersehen. Für die Gewinnung der Pigmente reicht oft schon eine Schaufel voll Erde aus.
Mit der steten Suche nach Rohstoffen ist Kremer aufgewachsen. Viele Familienausflüge endeten im Steinbruch oder in der Mine. Die Steine und Erden sind Rohstoffe für die schillerndsten Pigmente. Heute ist er drei Monate im Jahr unterwegs. Er stellt auf internationalen Fachmessen aus, gräbt nach neuen Rohstoffen oder besucht die Filiale in New York City. Zumindest in normalen Jahren – die Corona-Pandemie lässt es gerade nicht zu.
Der sprichwörtlich rote Faden, der sich durch die Firmengeschichte zieht, ist bei Kremers blau. Im aktuellen Katalog sind vier Seiten Blautöne gelistet. Ägyptischblau, Kobalt und Indigo – blau, blau, blau. Angefangen hat es mit Smalte, jenem Farbton, den Georg Kremer im Keller aus Kobalterz, Quarzsand, PottUm asche und mit viel Hitze brannte. Das dadurch entstehende Kobaltglas fühlt sich wie ein poröser, federleichter Stein an, bevor es zum blauen Pigment gemahlen wird.
Das teuerste Blaupigment in David Kremers Sortiment ist ein Ultramarinblau, das aus Lapislazuli gewonnen wird. Kremer importiert den Edelstein aus Afghanistan. Das reinste Ultramarinblau heißt FraAngelico-Blau. Ein Kilo davon kostet über 16000 Euro. Die blauen Himmelsstreifen in Tizians „Bacchus und Ariadne“wurden mit dem kostbaren Pigment gestaltet. Heute hängt das Gemälde des venezianischen Malers in der Londoner National Gallery, deren Restauratoren ihre Pigmente aus dem Allgäu beziehen.
Künstler und Restauratoren bezeichnen Kremer als ihren Dealer. Wenn er verreist, muss er im Flugzeug seinen Koffer mit Farbpulver als Handgepäck mitführen. Deshalb der Vergleich. Zollbeamte staunen, lassen ihn aber passieren. „Wenn man so will, sind wir Dealer“, sagt Kremer. „Wir sind klassische Rohstoffhändler.“
Auch auf einem kleinen Tisch in einer Augsburger Steinmetzwerkstatt liegen Kremers Ein-Kilo-Beutel, gefüllt mit Pigmenten. Florian Freyer bezieht seit Jahren seinen Stoff aus der Mühle im Allgäu. Fast süchtig sei er nach Kremers Pigmenten. Freyer ist Restaurator im Handwerk, Steinmetz- und Steinbildhauermeister. Als Abiturient kaufte er schon Farbe und Pinsel in Kremers Filiale in München. „Der Laden war immer eine Sinneserfahrung“, sagt der heute 49-Jährige. Er strahlt, wenn er an den Farbenrausch von damals denkt.
Im Moment restauriert Freyer eine frühgotische Sitzmadonna, die über Jahrhunderte am Gablinger Schloss angebracht war. Der Kopf des Jesuskinds ist abgebrochen. Die blauen, grünen und roten Farbschichten blättern ab und der Lechbrucker Sandstein ist von Frost und Regen angegriffen. Das genaue Alter und der Künstler seien nicht bekannt, erklärt Freyer. Mit einer feinen Lasur will er die Madonna retuschieren. Für den Mantel benötigt Freyer blaue Pigmente. Den Farbstoff vermischt er mit einem Bindemittel – eine Prozedur, die schon seit Jahrhunderten gleich ist. Das Bindemittel sorgt dafür, dass die
Einst mahlten Mönche hier Getreide
Gerade sucht Kremer nach einer Haifischhaut
Farbe an der gestalteten Oberfläche haften bleibt. Öl, Wachs, Gummi, Harz, Kalk, Cellulose oder Eiweiß können dazu dienen. Erst die Symbiose aus Pigment und Bindemittel schafft eine flüssige Substanz, die der Laie als Farbe erkennt.
Mit einem blauen Spezialauftrag hat es damals für den Farbhersteller aus dem Allgäu angefangen. Noch heute wenden sich Künstler mit ausgefallenen Wünschen an Kremer. Aus einem Apple-iPhone und aus Schweizer Banknoten wurden in der Farbmühle schon Spezialpigmente gefertigt. Momentan sucht Kremer gemeinsam mit seiner Frau nach einer Haifischhaut. Ein Künstler will sie als Schleifpapier verwenden. „Die zu finden, ist nicht leicht“, sagt er. Aufgeben will er nicht so schnell. Das liegt in der Familie – Georg Kremer tat es damals beim Smalteblau auch nicht.
Was Künstler und Restauratoren mit den Pigmenten gestalten, weiß Kremer nicht immer. Bei Miquel Barceló ist das anders. Der Mallorquiner schuf für die Vereinten Nationen ein schäumendes Meer, das sich im Licht verändert. Ein blaues Wunder aus dem Allgäu für die Welt.