Hängt Corona Senioren ab?
Familie und Freunde kann man fast nur digital treffen, der Arzt bietet seine Sprechstunde per Computer an. Doch viele Senioren finden keinen Zugang zum Internet, fühlen sich einsam und abgehängt. Wie es aber klappen kann mit den Rentnern und dem Netz
In der Pandemie findet Kommunikation vor allem digital statt. Doch wie kommen ältere Menschen damit klar? Drohen Sie abgehängt zu werden? Lesen Sie dazu unsere Geschichte auf der
Dillingen Der Große Brockhaus in der edlen Goldschnitt-Auflage begleitet Ingard Sandtner seit Jahrzehnten. So lange, dass sie schon gar nicht mehr weiß, ob ihr Mann oder sie selbst ihn mit in die Ehe brachte. „Sieht schön aus im Regal“, sagt die 75-Jährige und lacht. Benutzt hat sie das Lexikon seit einer Ewigkeit nicht. Sie hat ja Smartphone und Tablet. Müsste die dreifache Oma aus dem Kreis Dillingen ihre Internet-Kenntnisse mit einer Schulnote bewerten, „ich würde mir eine Drei geben“. Heißt: Natürlich nicht annähernd so fit wie ihre Enkeltöchter, „aber zumindest finde ich jede Information, die ich brauche“.
Damit hat sie vielen Senioren etwas voraus. Rund ein Drittel von Ingard Sandtners Altersgenossen hatte zuletzt nicht einmal einen Internetzugang, wie der Altersbericht der Bundesregierung zeigt. Bei den Senioren ab 79 Jahren sind zwei von dreien nicht im Netz unterwegs. Mancher möchte gar nicht online gehen. Andere haben erst jetzt in der Corona-Krise die digitalen Möglichkeiten schätzen gelernt, telefonieren über Video mit den Enkeln, besuchen die Online-Sprechstunde des Hausarztes, machen virtuelle Museumsführungen.
Doch der Lockdown mit all seinen Einschränkungen zeigt auch: Oft fehlen die Voraussetzungen dafür, dass die Ältesten in der Gesellschaft am digitalen Leben teilnehmen können. In einfachen Verhältnissen reicht manchmal schlicht das Geld nicht, um sich einen Internetanschluss, ein Tablet oder Smartphone leisten zu können. Viel häufiger noch fehlt es am nötigen Wissen, an Hilfe bei den ersten Schritten im Internet und an Informationen, die die Angst vor der unbekannten Welt nehmen.
Für Ingard Sandtner war die Umstellung vom „echten“Leben ins digitale nicht so schwierig. Sie sitzt vor ihrem Handy, das Gespräch läuft über Videoanruf per WhatsApp. Hinter ihr steht der massive, dunkle Esszimmerschrank, die ehemalige Büroleiterin hat für ihren Auftritt vor der Kamera eine braune Bluse ausgewählt, dazu die passende goldene Halskette. So könnte sie sich auch auf einem Foto in der Zeitung gut sehen lassen. Das möchte sie aber lieber nicht. „Ich bin da ein bisschen genant“, sagt die blonde
Rentnerin. Solche eleganten, in Vergessenheit geratenen Wörter streut die 75-Jährige öfter in ihre Sätze ein. Doch wenn sie über Probleme von Senioren mit dem Internet spricht, dann hört es sich an, als würde sie selbst gar nicht zu den Rentnern zählen. Über den Lockdown zum Beispiel, als persönliche Treffen plötzlich verboten waren, Familien sich nicht mehr sehen konnten. „Für mich war das easy“, sagt Sandtner. Sie und ihr Ehemann hatten schon vor Corona regelmäßig über die Videoplattform Skype mit ihren drei Enkeln kommuniziert. „Aber im Fernsehen haben sie alte Leute gezeigt, die deswegen geweint haben.“
Linus Einsiedler hat viele dieser Menschen kennengelernt. Er arbeitet am Institut für Medienpädagogik des Medienzentrums München und betreut seit knapp einem Jahr eine Telefonberatung für Senioren, die Fragen zum Umgang mit digitalen Medien haben. „Zu Beginn wurden wir überrollt von Anrufen“, erinnert sich der Experte. Einsiedler kann auch gut erklären, warum. „Vor der Corona-Pandemie konnten Ältere noch ein alltägliches Leben führen, ohne auf das Internet angewiesen zu sein. Jetzt im Lockdown haben sich alltägliche Dinge ins Netz verlagert. Dadurch wird die Situation älterer Menschen ohne Digital-Erfahrung zugespitzt.“Das größte Problem für sie sei das Verbot, sich mit Freunden und Familie zu treffen. „Viele unserer Anruferinnen und Anrufer wollen erfahren, wie sie mit ihren Enkelkindern und Freunden auch weiter in Kontakt bleiben können.“Teilweise hätten die Rentner keinerlei Erfahrung mit dem Internet. Dennoch erkennt Einsiedler eine große Bereitschaft, sich in die Technik einzuarbeiten. „Manche möchten sich gern ein Smartphone zulegen, wissen aber nicht wie und welches. Andere würden sich gerne eine E-MailAdresse einrichten. Wieder andere sagen: ,Ich habe zwar eine MailAdresse, weiß aber nicht, wie ich schreiben kann.‘“
Einsiedler und sein kleines Team können 95 Prozent der Probleme lösen. Und manchmal ist das Beste, was er tun kann, den Anrufern einfach zuzuhören. „Unter den Älteren gibt es Menschen, die sehr einsam sind. Man spürt, dass sie es sehr wertschätzen, wenn man ihnen zuhört. Sie haben Angst, in der Corona-Krise abgehängt zu werden. In solchen Momenten treten technische Fragen in den Hintergrund.“Für die Erschwernisse der älteren Menschen macht er eine Entwicklung in der Gesellschaft mitverantwortlich. „Digitalisierung ist normal geworden – so normal, dass man nicht darüber nachdenkt, dass viele ältere Menschen nicht die entsprechenden Werkzeuge und Kompetenzen haben. Man vergisst, für sie anders anzusetzen. Wir brauchen niederschwellige Angebote, mit denen man Hürden unkompliziert abbauen kann.“
Ingard Sandtner ist auch als Digitalberaterin im Einsatz – leider nur für ihren Mann, dem sie beim Bedienen von Smartphone und Handy hilft. „Er dappt zum Beispiel oft zu fest drauf“, erklärt sie schmunzelnd auf gut Schwäbisch. „Dann sage ich: Eine leichte Berührung reicht.“Heute ist ihr Mann 82, war lange selbstständig als Handwerksmeister. „Er hatte immer Angestellte, die ihm zugearbeitet haben.“Sie selbst übernahm alles Kaufmännische, hielt das Büro am Laufen, musste sich zwangsläufig mit technischen Neuerungen auseinandersetzen. Sie erinnert sich noch gut, wie sie ihren ersten Brief am Computer schrieb. „So, und wie bringe ich den jetzt aufs Papier?“, habe sie damals gedacht. Als sie es heute erzählt, füllt ihr Lächeln die Hälfte des Videobildschirms aus. Wie so oft fand Sandtner es durch Hin- und Herprobieren heraus. Ihr Mann habe das digitale Grundwissen nicht. Bei den englischen Wörtern fange es ja schon an. Mit Enter bestätigen, per Download eine Datei herunterladen oder die Programme namens App: „Das muss man ja erst mal herleiten.“Ständig müsse man irgendetwas bestätigen, sogenannte Cookies akzeptieren.
Dazu komme das Haptische. Am Anfang sei es ungewohnt, eine Computermaus zu bedienen. Ganz zu schweigen von der Schwierigkeit, auf einem kleinen Display das richtige Symbol zu treffen. Viele Senioren kennen die Probleme, und wenn dann noch die Augen nachlassen ...
Eins hat Ingard Sandtner kürzlich besonders geärgert. „Dass die Anmeldung zum Impfen im Internet so unübersichtlich war.“Sie habe sich eingeloggt, das Formular auf der
Impfplattform ausgefüllt, auf „Termin buchen“geklickt – und es kam keinerlei Rückmeldung. Erst nach über zehn Minuten gab es eine Fehlermeldung. Hätte sie nicht so lange vor dem PC ausgeharrt, wären die Sandtners wohl ohne gültigen Termin vor dem Impfzentrum gestanden. Die Bayerische Staatsregierung hat beim Impfportal inzwischen nachgebessert.
Um älteren Menschen Zugang zum (digitalen) Sozial- und Kulturleben zu bieten, hatte das Sozialministerium schon vor Corona ein Förderprogramm mit einem griffigen Namen ins Leben gerufen: „Mut“. Das steht nicht in erster Linie für die Courage, die ältere Menschen beim Thema Internet oft erst ansammeln müssen. Der Name bedeutet ausgeschrieben „Medien und Technik“. Er meint Schulungsangebote für die Generation 60 plus. Angesiedelt sind sie an den 90 Mehrgenerationenhäusern in Bayern. Jedes kann jährlich 5000 Euro dafür abrufen. Rund die Hälfte macht bisher mit.
Ein Haken an der Sache: Aus Gründen des Infektionsschutzes fallen die meisten analogen Angebote aus – auch die von Dagmar Hirche. Sie betreibt in Hamburg den Verein „Wege aus der Einsamkeit“– und geht nach dem ersten Klingeln ans
Telefon. Obwohl sie ehrenamtlich arbeitet, sitzt sie in diesen Wochen viel am Schreibtisch. 8000 Senioren bundesweit hat die Frau mit dem kurzen grauen Haar die Angst vor dem Internet genommen, sie im Umgang mit Smartphone und Tablet geschult. Seit sieben Jahren bietet sie Gesprächsrunden für Internet-Neulinge an. Der Titel: „Wir versilbern das Netz“.
Viele Rentner, die einmal dabei waren, kommen immer wieder. Kurz nach den ersten Kontaktverboten im März 2020 hat Dagmar Hirche ihren Nutzern Zoom erklärt. Wieder so ein englisches Wort. Dahinter verbirgt sich eine der meistgenutzten Videoplattformen der Welt. „Unser virtueller Raum auf Zoom ist eine digitale Kneipe geworden“, freut sich die 64-Jährige. Die älteste Teilnehmerin ist 95. „Corona hat vielen Menschen gezeigt, dass sie das Internet nutzen müssen“, sagt Hirche. Wenn die Pandemie etwas Gutes hat, dann das. Die Hamburgerin weiß, mit welcher Begeisterung Senioren im Netz unterwegs sind, sobald sie es einmal hineingeschafft haben. Wenn zwei dutzend Rentner vor der Laptop-Kamera die Hände durch die Luft schwenken, kann das nur heißen: Es ist wieder Sitztanz-Zeit. Sitzyoga sei ebenso beliebt, auch der Expertenvortrag zur Funktionsweise der Corona-Warn-App sei gut besucht gewesen.
Nur eine Gruppe fehlt in der digitalen Kneipe: die Bewohner von Pflegeheimen – und das ist für Dagmar Hirche ein politischer Skandal. „Was für uns so selbstverständlich ist, sprechen wir den Heimbewohnern ab.“Sie schätzt, dass bundesweit nur rund 20 Prozent der Heime mit WLAN auf den Zimmern ausgestattet sind. „Wenn man alte Menschen in ihren Zimmern sich selbst überlässt, sei es aus Mangel an Pflegekräften oder weil sie in der Corona-Krise nicht einmal die engsten Verwandten besuchen dürfen, wäre ein solches Angebot umso wichtiger.“Die Vereinsvorsitzende findet auch, dass „Kranken- und Pflegekassen Digitalisierung für ältere Menschen in ihre Programme mit aufnehmen müssten“.
Aber wie können Familien älteren Angehörigen den Weg ins Internet ebnen? „Es ist wichtig, dass man kleine Schritte macht und zeigt, was das Internet kann. Familienmitglieder sollten herausfinden, welche Interessen
Es fehlt an Hilfe bei den ersten Schritten im Netz
Das Handy zeigt an, wann die Müllabfuhr kommt
ihre älteren Angehörigen haben – und sie darüber in die digitale Welt einführen.“Hirche erzählt von ihren eigenen Eltern, die sich täglich ein Klassik-Konzert auf YouTube ansehen. „Ein kleiner Schritt ist es auch, Senioren in die Familien-WhatsApp-Gruppe aufzunehmen, dort zum Beispiel Bilder zu zeigen.“Und wenn man etwas schon dreimal erklärt hat und die Älteren trotzdem nachfragen, müsse man es mit Geduld eben auch ein viertes, fünftes, zehntes Mal tun.
Rentnerin Ingard Sandtner fragt ihre Enkelinnen, wenn sie mit Smartphone und Tablet nicht weiter weiß. Oder sie klemmt sich selbst dahinter. „Das muss man immer wieder machen, weil sich immer etwas ändert.“
Sie wirft einen Blick auf ihre Apps: Kamera, Wetter online, Cookidoo für die Bedienung des Thermomix, Autoroute für die Navigation. Der Kalender erinnert sie an Termine, die App des Abfallwirtschaftsverbands daran, wann sie den Müll rausstellen muss. Und natürlich WhatsApp, das so wichtig ist, um Familie und Freunde nicht aus den Augen zu verlieren. „Erst kürzlich hat mir meine mittlere Enkelin ihre neuen Riesenschnecken im Terrarium gezeigt“, erzählt die stolze Oma. In natura gesehen hat sie die Enkeltochter seit mehr als einem Jahr nicht. „Da ist das Internet eine große Bereicherung.“