Patientenschützer warnen vor neuem Impfchaos
Verpassen Ältere oder Kranke wegen der Freigaben und der Vordrängler Impfungen?
Augsburg/Berlin Lange war der Mangel an Impfstoffen das beherrschende Problem im Kampf gegen Corona. Doch inzwischen werden bis zu 1,1 Millionen Dosen am Tag verimpft – und der Ansturm auf die Terminvergabestellen der Hausarztpraxen und Impfzentren ist ungebrochen. Allerdings tun sich nun neue Probleme auf: Tausende Bundesbürger versuchen sich an den für die Impfstoffe von Biontech und Moderna noch immer gültigen Prioritätenlisten vorbeizudrängeln. Zusätzlich droht die Freigabe der wegen seltener, aber gefährlicher Nebenwirkungen umstrittenen Impfmittel von AstraZeneca und Johnson & Johnson Arztpraxen und Impfzentren zu überfordern.
Viele Impfzentren klagen nach einem Bericht des Fernsehmagazins Report Mainz über Aggressivität von Impfwilligen und zunehmende Versuche, sich eine vorzeitige Impfung zu erschleichen. In München würden bis zu 350 Vordrängler in der Woche erwischt, am Hamburger Impfzentrum wurden sogar 2000 Vordrängler binnen sieben Tagen gezählt. Um vorzeitig an einen Impftermin zu kommen, würden falsche Alters- oder Berufsangaben gemacht, andere täuschten vor, zu Hause Pflegebedürftige zu versorgen. Eine Anfrage, wie viele solcher Fälle in Bayern bisher gezählt wurden, ließ das Gesundheitsministerium bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe jedoch unbeantwortet.
„Damit entsteht in den Impfzentren und bei den Hausärzten massiver Druck“, kritisiert der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch. „Am Patientenschutztelefon erfahren wir von psychischen und physischen Drohgebärden.“Zugleich sind in Deutschland hunderttausende Risikopatienten noch nicht geimpft, denen die Vordrängler Termine wegschnappen. „Zwar werden tausende erwischt, aber es fehlt an Sanktionen“, kritisiert Brysch. „Sich beim Impfen vorzudrängen, ist weiterhin keine Ordnungswidrigkeit.“Die FDP-Gesundheitsexpertin Christine Aschenberg-Dugnus bezeichnete das vorzeitige Erschleichen von Impfungen als „zutiefst unanständig“. Die Ungeduld der Menschen sei zwar verständlich, entschuldige aber nicht die Anwendung von Tricks. Der Ruf nach einer stärkeren Sanktionierung von Impf-Vordränglern sei daher nachvollziehbar.
Auch Impfexperten warnen davor, dass die Angehörigen von Risikogruppen trotz der millionenfach gelieferten Impfdosen die Verlierer der gelockerten Impfstrategie werden. „Es ist problematisch, dass jetzt schon sehr früh über die Aufhebung von Priorisierungen gesprochen wird“, warnt der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, Carsten Watzl, im Interview mit unserer Redaktion. „Wir haben noch sehr viele Menschen in der Prioritätsgruppe drei, die noch
Viele Risikopatienten sind noch nicht geimpft
nicht geimpft sind.“Diese Menschen hätten ein deutlich höheres Risiko, an Corona zu erkranken oder einen schweren Verlauf zu erleiden: „Wenn wir jetzt zu schnell freigeben, schützen wir nicht gut und früh genug die Menschen, die den Schutz am nötigsten haben.“Watzl kritisierte zudem, dass die Bundesregierung bei AstraZeneca den Impfabstand entgegen den Empfehlungen der Impfkommission von zwölf auf vier Wochen verkürzt hat: Dies gehe auf Kosten der Wirksamkeit, „das heißt, die Menschen bekommen dadurch einen schlechteren Impfschutz“, sagte Watzl. „Hier werden die Menschen und die Hausärzte mit dieser Frage alleingelassen, denn die Probleme werden nicht ausreichend kommuniziert.“
Das Interview mit Carsten Watzl lesen Sie in der