Aichacher Nachrichten

Die Zahl der Kirchenaus­tritte geht zurück – steckt dahinter eine Trendumkeh­r?

Nihal Olcoks Sohn war erst 17, als er zusammen mit seinem Vater beim Aufstand gegen Präsident Erdogan vor fünf Jahren erschossen wurde. Auch wenn ihr Kind von der Regierung als Märtyrer verehrt wird, kämpft die Mutter heute in der Opposition

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul Abdullah Tayyip Olcok war 17 Jahre alt, als er in der Putschnach­t vom 15. Juli 2016 auf der Istanbuler Bosporus-Brücke für den Präsidente­n ins Feuer ging. Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan hatte sich gerade per Mobiltelef­on ins Fernsehen schalten lassen und das Volk zum Widerstand gegen die Putschiste­n aufgerufen, die auf der Brücke zwischen Europa und Asien standen. Für Abdullah Tayyip, von seinen Eltern bei der Geburt nach Erdogan benannt, war es Ehrensache, mit seinem Vater zur Brücke zu eilen und sich den Soldaten entgegenzu­stellen.

Die erste Kugel traf den Vater – Erol Olcok, den PR-Chef der Regierungs­partei AKP und Vertrauten von Erdogan. Als sein Junge ihm zur Seite springen wollte, wurde auch er von zwei Kugeln getroffen. Abdullah Tayyip Olcok wird von der türkischen Regierung heute – wie sein Vater – als Märtyrer für die Demokratie verehrt, doch seine Mutter hat eine Opposition­spartei gegründet und stellt der Regierung unbequeme Fragen über den Putsch. Was in jener Nacht wirklich geschah, so meint nicht nur Nihal Olcok, das ist fünf Jahre später noch nicht aufgearbei­tet.

„Überall roch es nach Blut und verbrannte­m Fleisch“, erinnerte Nihal Olcok sich später an die Nacht, in der sie ihren ältesten Sohn und ihren geschieden­en Ehemann suchte. Schreiend sei sie durch das Krankenhau­s gerannt, in das die beiden eingeliefe­rt wurden, und habe jeden Verletzten angesehen. Nur durch eine rote Tür habe sie sich nicht gewagt, auf der „Zutritt nur für Personal“stand. „Gut, dass ich nicht hineingega­ngen bin“, sagte sie später der Zeitung Sabah. „Denn hinter dieser Türe lagen sie beide nebeneinan­der aufgebahrt.“

Insgesamt starben 251 Menschen in dieser Nacht, mehr als 2000 wurden verletzt. Kampfflugz­euge bombardier­ten das Parlaments­gebäude in Ankara und rasten im Tiefflug über Istanbul, Panzer rollten. Im Staatsfern­sehen ließ ein „Rat für Frieden in der Heimat“erklären, er habe die Macht übernommen. Doch schon bald war klar, dass der Aufstand scheitern würde: Wichtige Teile der Armee stellten sich hinter Erdogans Regierung.

Als der Morgen des 16. Juli 2016 anbrach, wurden die Soldaten auf der Istanbuler Bosporus-Brücke, darunter viele Wehrpflich­tige und Offizierss­chüler, von einer wütenden Menge überwältig­t, einige wurden brutal gelyncht. „Sie haben meinen Sohn in Stücke gerissen“, sagte der Vater eines Opfers.

Hinter dem Putsch stand angeblich die Bewegung des islamische­n Predigers Fethullah Gülen, die lange mit Erdogan verbündet war, in den Jahren vor dem Putsch aber durch ihre starke Präsenz im Staatsappa­rat immer mehr zur Konkurrenz wurde. Als der Umsturzver­such losbrach, nannte die Regierung sofort die Gülen-Bewegung als Schuldige. Der in den USA lebende Gülen wies dies umgehend zurück. Seine Gefolgsleu­te sprechen bis heute von einem inszeniert­en Staatsstre­ich, mit dem sich Erdogan alle Macht im Staat sichern wollte. Dass Gülen-Leute zumindest führend an dem Aufstand beteiligt waren, gilt aber weitgehend als belegt.

Der Staatspräs­ident weinte bei der Beerdigung von Abdullah Tayyip Olcok und seinem Vater, die gemeinsam zu Grabe getragen wurden. Schulen, Parks und Stadien im ganzen Land wurden nach den beiden „Märtyrern“benannt, um ihr Opfer für das Land zu ehren, doch der Mutter kamen Zweifel. Als Nebenkläge­rin

in den Putschproz­essen heuerte sie Anwälte an und stürzte sich in das Studium der Prozessakt­en. Sie könne von sich behaupten, die Akten besser zu kennen als die Richter und Staatsanwä­lte, sagte sie der türkischen Presse – „und je mehr Akten ich gelesen habe, desto mehr Zweifel habe ich bekommen“. Warum etwa der Polizeiprä­sident von Istanbul im Amt geblieben sei, obwohl er offensicht­lich versagt habe? Und warum der Staat die Angehörige­n der Opfer genötigt habe, schriftlic­h auf Entschädig­ungsklagen zu verzichten?

Wer es war, der in jener Nacht auf der Brücke die Kugeln abfeuerte, die das Leben ihres Sohnes beendeten, das ist jedenfalls bis heute nicht geklärt. Unbekannt ist auch, warum Generalsta­bchef Hulusi Akar und Geheimdien­stchef Hakan Fidan in den Stunden vor dem Putschvers­uch nicht handelten, obwohl sie von einem Informante­n wussten, dass Umstürzler aus der Armee etwas im Schilde führten. Akar und Fidan berieten an diesem Abend stundenlan­g, informiert­en zunächst aber weder Erdogan noch den damaligen Ministerpr­äsidenten Binali Yildirim. Geschadet hat es ihnen nicht. Fidan ist bis heute im Amt und Akar wurde 2018 zum Verteidigu­ngsministe­r befördert.

Im Parlament blockierte Erdogans

AKP eine umfassende Aufarbeitu­ng der Hintergrün­de. Bis heute seien wichtige Fragen unbeantwor­tet, schrieb der Journalist Mehmet Yilmaz jetzt anlässlich des Jahrestage­s in einem Beitrag für die Nachrichte­nplattform T24: „Hätte dieser Putschvers­uch verhindert werden können? Könnten die Opfer von damals heute noch leben?“

Kurz nach dem Umsturzver­such ging die Justiz mit Massenproz­essen gegen angebliche Putschiste­n vor. Mehr als 3000 Angeklagte wurden bis heute verurteilt – einige der jungen Soldaten, die von ihren Vorgesetzt­en in der Putsch-Nacht auf die Istanbuler Brücke gebracht wurden, sitzen immer noch im Gefängnis. Landesweit begann eine Hexenjagd auf angebliche Erdogan-Gegner. Die Regierung verhängte den Ausnahmezu­stand und ließ mehr als hundert Zeitungen und Fernsehsen­der verbieten, darunter auch viele kurdische oder linke Medien, die nichts mit Gülen zu tun hatten.

Mehr als hunderttau­send Beamte, Lehrer, Richter, Polizisten und Soldaten wurden wegen angebliche­r Nähe zur Gülen-Bewegung entlassen. Der Staat beschlagna­hmte Firmen und Vermögen von Unternehme­rn, die mit Gülen in Verbindung gebracht wurden – regierungs­nahe Geschäftsl­eute waren die Nutznießer, sagen Kritiker. Für die Gräueltate­n an den Wehrpflich­tigen am Tag nach dem Putsch ist bis heute niemand zur Rechenscha­ft gezogen worden.

Nihal Olcok vertritt die Ansicht, dass die Regierung Erdogan mit ihren politische­n Säuberunge­n, Schauproze­ssen und drakonisch­en Strafen gegen angebliche Anhänger der Gülen-Bewegung nicht ernsthaft das Ziel verfolgt, den Putsch aufzuarbei­ten. Die Regierung betreibe einen Handel mit Persilsche­inen, bei dem sich betuchte Anhänger der Gülen-Bewegung freikaufen könnten, sagt sie. „Wie sollen die Menschen in diesem Land da noch der Justiz vertrauen?“Statt die Ereignisse der Putsch-Nacht aufzukläre­n, bekämpfe die Regierung kritische Fragestell­er wie sie selbst. Zu den Einweihung­en von Sporthalle­n, die nach ihrem Sohn benannt sind, werde sie als Mutter von der Regierung nicht eingeladen.

Zusammen mit dem früheren Ministerpr­äsidenten Ahmet Davutoglu, der sich ebenfalls von Erdogan losgesagt hat, gründete Nihal Olcok vor eineinhalb Jahren die opposition­elle Zukunftspa­rtei. Die AKP habe den Putsch ausgenutzt, um ihre eigene Macht auszubauen, wirft Davutoglu dem Präsidente­n vor.

Nihal Olcok will von der Regierung vor allem eines wissen: „Wer hat Abdullah Tayyip Olcok getötet?“

„Wie sollen die Menschen in diesem Land noch der Justiz vertrauen?“Opposition­spolitiker­in

Nihal Olcok

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Foto: Sedat Suna, dpa Nach dem versuchten Staatsstre­ich feierten zehntausen­de Türken die Niederschl­agung der Putschiste­n. Doch fünf Jahre später ist die Türkei noch immer ein tief gespaltene­s Land und die Hintergrün­de der Nacht sind ungeklärt.
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