Heinrich Mann: Der Untertan (112)
Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut schen Kaiserreich um 1900 zu einem intriganten und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogramm eines Nationalisten. ©Projekt Gutenberg
Der alte Buck, den alle von jeher kannten, war kein Schwindler und Gauner. Eine Unvorsichtigkeit wäre ihm vielleicht zuzutrauen gewesen, besonders jetzt, wo er die Schulden seines Bruders bezahlte und selbst schon das Wasser an der Kehle hatte. Ob er nun wirklich mit Cohn bei Klüsing gewesen war wegen des Terrains? Ein gutes Geschäft – es hätte nur nicht herauskommen dürfen! Und warum mußte Kühlemann genau in der Minute abkratzen, wo er seinen Freund hätte freischwören sollen. So viel Pech bedeutete etwas. Herr Tietz, der kaufmännische Leiter der „Netziger Zeitung“, der in Gausenfeid ein und aus ging, sagte ausdrücklich, man begehe nur ein Verbrechen gegen sich selbst, wenn man für Leute eintrete, die augenscheinlich ausgespielt hätten. Auch machte Tietz darauf aufmerksam, daß der alte Klüsing, der mit einem Wort die ganze Sache hätte beenden können, sich hütete, zu reden. Er war krank, nur seinetwegen mußte die Verhandlung
auf unbestimmte Zeit vertagt werden. Was ihn aber nicht abhielt, seine Fabrik zu verkaufen. Dies war das Neueste, dies waren die „einschneidenden Veränderungen in einem großen, für das wirtschaftliche Leben Netzigs hochbedeutsamen Unternehmen“, von denen die „Netziger Zeitung“dunkel meldete. Klüsing war mit einem Berliner Konsortium in Verbindung getreten. Diederich, gefragt, warum er nicht mittue, zeigte den Brief vor, worin Klüsing ihm, früher als jedem andern, den Kauf angeboten hatte. „Und zwar unter Bedingungen, die nie wiederkommen“, setzte er hinzu. „Leider bin ich stark engagiert bei meinem Schwager in Eschweiler, ich weiß nicht einmal, ob ich nicht von Netzig wegziehen muß.“Aber als Sachverständiger erklärte er auf Befragen Nothgroschens, der seine Antwort veröffentlichte, daß der Prospekt eher noch hinter der Wahrheit zurückbleibe. Gausenfeld sei tatsächlich eine Goldgrube; der Ankauf der Aktien, die an der Börse zugelassen seien, könne nur auf das wärmste empfohlen werden. Tatsächlich wurden die Aktien in Netzig stark gefragt. Wie sachlich und von persönlichem Interesse unbeeinflußt Diederichs Urteil gewesen war, zeigte sich bei einer besonderen Gelegenheit, als nämlich der alte Buck Geld suchte. Denn er war soweit; seine Familie und sein Gemeinsinn hatten ihn glücklich so weit gebracht, daß auch seine Freunde nicht mehr mitgingen. Da griff Diederich ein. Er gab dem Alten zweite Hypothek für sein Haus in der Fleischhauergrube. „Er muß es verzweifelt nötig gehabt haben“, bemerkte Diederich, sooft er davon erzählte. „Wenn er es von mir, seinem entschiedensten politischen Gegner, annimmt! Wer hätte das früher von ihm gedacht.“Und Diederich sah gedankenvoll in das Schicksal… Er setzte hinzu, das Haus werde ihm teuer zu stehen kommen, wenn es ihm zufalle. Freilich, aus dem seinen müsse er bald heraus. Und auch dies zeigte, daß er auf Gausenfeld nicht rechnete. „Aber“, erklärte Diederich, „der Alte ist nicht auf Rosen gebettet, wer weiß, wie sein Prozeß ausgeht – und grade weil ich ihn politisch bekämpfen muß, wollte ich zeigen – Sie verstehen.“Man verstand, und man beglückwünschte Diederich zu seinem mehr als korrekten Verhalten.
Diederich wehrte ab. „Er hat mir Mangel an Idealismus vorgeworfen, das durfte ich nicht auf mir sitzenlassen.“Männliche Rührung zitterte in seiner Stimme. Die Schicksale nahmen ihren Lauf; und wenn man manche auf Terrainschwierigkeiten stoßen sah, durfte man um so freudiger anerkennen, daß das eigene glatt ging. Diederich erfuhr dies so recht an dem Tage, als Napoleon Fischer nach Berlin reiste, um die Militärvorlage abzulehnen. Die „Volksstimme“hatte eine Massendemonstration angekündigt, der Bahnhof sollte polizeilich besetzt sein; Pflicht eines nationalen Mannes war es, dabeizusein. Unterwegs stieß Diederich auf Jadassohn. Man begrüßte einander so förmlich, wie die kühl gewordenen Beziehungen es vorschrieben. „Sie wollen sich auch den Klimbim ansehen?“fragte Diederich.
„Ich gehe in Urlaub – nach Paris.“Tatsächlich trug Jadassohn Kniehosen. Er setzte hinzu: „Schon um den politischen Dummheiten auszuweichen, die hier begangen worden sind.“
Diederich beschloß, vornehm hinwegzuhören über die Verärgerung eines Menschen, der keinen Erfolg gehabt hatte. „Man dachte eigentlich“, sagte er, „Sie würden jetzt Ernst machen.“
„Ich? Wieso?“
„Fräulein Zillich ist freilich fort zu ihrer Tante.“
„Tante ist gut“, Jadassohn feixte. „Und man dachte. Sie wohl auch?“
„Mich lassen Sie nur aus dem Spiel.“Diederich machte ein Gesicht voll Einverständnis. „Aber wieso ist Tante gut? Wo ist sie denn hin?“
„Durchgegangen“, sagte Jadassohn. Da blieb Diederich denn doch stehn und schnaufte. Käthchen Zillich durchgegangen! In was für Abenteuer hätte man verwickelt werden können! Jadassohn sagte weltmännisch: „Nun ja, nach Berlin. Die guten Eltern haben noch keine Ahnung. Ich bin weiter nicht böse mit ihr, Sie verstehen, es mußte mal zum Klappen kommen.“
„So oder so“, ergänzte Diederich, der sich gefaßt hatte.
„Lieber so als so“, berichtigte Jadassohn; worauf Diederich, vertraulich die Stimme gesenkt: „Jetzt kann ich es Ihnen ja sagen, mir kam das Mädchen schon immer so vor, als ob sie bei Ihnen auch nicht sauer werden würde.“Aber Jadassohn verwahrte sich, nicht ohne Eigenliebe. „Was glauben Sie denn. Ich selbst habe ihr Empfehlungen mitgegeben. Passen Sie auf, sie macht Karriere in Berlin.“
„Daran zweifle ich nicht.“Diederich zwinkerte. „Ich kenne ihre Qualitäten. Sie allerdings haben mich für naiv gehalten.“Jadassohns Abwehr ließ er nicht gelten. „Sie haben mich für naiv gehalten. Und zur selben Zeit bin ich Ihnen verdammt ins Gehege gekommen, jetzt kann ich es ja sagen.“Er berichtete dem andern, der immer unruhiger ward, sein Erlebnis mit Käthchen im Liebeskabinett berichtete es so vollständig, wie es in Wahrheit nicht stattgefunden hatte. Mit einem Lächeln befriedigter Rache sah er auf Jadassohn, der sichtlich im Zweifel war, ob hier der Ehrenpunkt Platz greifen müsse. Schließlich entschied er sich dafür, Diederich auf die Schulter zu klopfen, und man zog in freundschaftlicher Weise die gebotenen Schlüsse. „Die Sache bleibt natürlich streng unter uns. So ein Mädchen muß man auch gerecht beurteilen, denn woher soll die bessere Lebewelt sich ergänzen ... Die Adresse? Aber nur Ihnen. Kommt man dann mal nach Berlin, so weiß man doch, woran man ist.“
„Es hätte sogar einen gewissen Reiz“, bemerkte Diederich, in sich hineinblickend; und da Jadassohn sein Gepäck sah, nahmen sie Abschied. „Die Politik hat uns leider etwas auseinandergebracht, aber im Menschlichen findet man sich, Gott sei Dank, wieder. Viel Vergnügen in Paris.“
„Vergnügen kommt nicht in Frage.“»113. Fortsetzung folgt