Warum Verstappen so stark ist
In den vergangenen Jahren haben Lewis Hamilton und Mercedes dominiert. In dieser Saison aber liegt ein anderes Team vorne. Ob das auch in Silverstone so sein wird? Zum dortigen Rennen werden 140 000 Fans erwartet
Silverstone Vor wenigen Tagen hatten sich viele gewundert. 60 000 Zuschauer im Wembley-Stadion beim Finale der Fußball-EM – eine Zahl, die in Zeiten von Corona erschreckt. An diesem Wochenende werden in Silverstone 140000 Fans erwartet, wenn sich die Formel 1 zu ihrem nächsten Saisonrennen trifft. In England scheint vieles möglich, was andernorts noch undenkbar ist. Es kann aber gut sein, dass am Sonntag ein Großteil der Masse traurig nach Hause fährt. Ihr Liebling Lewis Hamilton hat seine Dominanz verloren. Favorit auf den WM-Titel ist nun Max Verstappen und Red Bull. Wie konnte es nur dazu kommen?
Im Leben gibt es wenig Verlässliches. Die Vergabe des Formel1-Titels aber zählte in den vergangenen Jahren zu jenen Konstanten, nach denen sich viele sehnen. Lewis Hamilton wird Weltmeister. Fertig. Wer darauf wetten wollte, durfte nicht mit viel Gewinn rechnen. In dieser Saison aber ist vieles anders. Der Rekordweltmeister entfernt sich mehr und mehr von seinem angestrebten achten WM-Titel. Der Rückstand auf Max Verstappen beträgt schon 32 Zähler. Hamilton setzt das zu. Mercedes gefällt das überhaupt nicht. Das plötzliche Hoch von Verstappen und seinem Red-Bull-Team aber hat Gründe.
Noch im vergangenen Jahr hatte das einstige Partyteam der Formel 1 große Probleme, ein siegfähiges Auto zu produzieren. Das Chassis, also das Gebilde rund um den Motor, war nicht gut und aerodynamisch genug, um der Übermacht von Mercedes entgegenzutreten. Dabei war Red Bull schon einmal ganz oben. Sebastian Vettel holte mit dem Team von Milliardär Dietrich Mateschitz von 2010 bis 2013 vier Titel. Seit Beginn der Hybridära in der Formel 1 dominierte jedoch Mercedes. Bis zu dieser Saison, die zum einen ungewohnte Probleme bei Mercedes aufzeigt, wie technische Probleme und Fehler von Lewis Hamilton. Zum anderen aber
einen starken Red-Bull-Rennwagen mit einem gereiften Max Verstappen am Steuer.
Das Herzstück eines Formel1-Boliden ist der Motor. Der von Mercedes war immer erstklassig. Der von Red Bull zuletzt nicht. Das war zeitweilig beim Partner Renault so und hatte sich auch durch die Zusammenarbeit mit Honda zunächst nicht grundlegend geändert. Der Antrieb der Japaner war weit weniger explosiv als der von Mercedes. Die Tüftler aus Japan aber haben den Abstand verringert. „Wir und auch Honda waren überrascht von dem Fortschritt, der auf der Motorenseite passiert ist“, sagte Red-Bull-Motorauch sportberater Helmut Marko im Interview mit Motorsport-Total.com. Das ein oder andere PS scheint gefunden worden zu sein.
Nun liegt die Kunst darin, das aktuelle Auto weiterzuentwickeln, ohne dabei die Arbeiten am Rennwagen für 2022 zu vernachlässigen. Ein Spagat, der schwer ist. „Wir sind uns sicher, dass unsere jetzige Performance nicht zulasten des 2022er-Autos geht“, sagte Marko. Soll heißen: Red Bull wird weitere Verbesserungen am aktuellen Auto vornehmen. Mercedes scheint dagegen schon weitgehend auf 2022 konzentriert zu sein, wenn weitreichende Regeländerungen die Formel 1 reformieren sollen. Mercedes möchte dann wieder von Tag eins ganz vorne dabei sein. Vielleicht auf Kosten der aktuellen Saison.
Die steht nach wie vor unter dem Eindruck der Corona-Pandemie. Auch wenn der Alltag immer stärker zurückkehrt. Die Formel 1 lässt sich jedenfalls dafür feiern, wieder ein sportliches Großereignis vor vollen Zuschauerrängen austragen zu können. Ihr kommt dabei die ländliche Lage Silverstones zugute. Einen öffentlichen Nahverkehr gibt es zur Strecke nicht, die Zuschauer werden mit ihren eigenen Autos anreisen. „Was oft unsere Achillesferse ist, das Fehlen von Eisenbahn, U-Bahn oder Bus, ist in diesem Fall sogar ein Vorteil“, sagte Silverstone-Geschäftsführer Stuart Pringle Sky Sports News. Zudem ist das Gelände, das zwischen Birmingham und London liegt, sehr weitläufig. 19 Eingänge gibt es. „Es ist einfach nicht das Gleiche wie bei einem Sportereignis im engen Stadtzentrum“, sagte Pringle.
Und doch gibt es auch kritische Stimmen. Auch innerhalb der Formel 1. „Ich bin hin- und hergerissen“, sagte Lewis Hamilton zuletzt nach dem Großen Preis der Steiermark in Spielberg. „Einerseits kann ich gar nicht sagen, wie aufgeregt ich bin, die Leute und das britische Publikum zu sehen“, meinte der Rekordweltmeister von Mercedes, „andererseits schaue ich natürlich die Nachrichten und höre, dass die Fallzahlen in Großbritannien massiv ansteigen. Daher mache ich mir natürlich Sorgen um die Leute“.
Silverstone kann sich als Versuchslabor für künftige Großveranstaltungen fühlen. Geht alles gut, ist das Experiment gelungen. Eine Garantie dafür gibt es freilich nicht.