Ihr Weg aus dem schwarzen Loch
Die Sprinterin Irmgard Bensusan hat ihren früheren Kampf mit Depressionen öffentlich gemacht. Hinter ihr liegt ein schwerer Weg
Leverkusen Es überraschte sie, dass alle überrascht waren: Im vergangenen Herbst informierte Irmgard Bensusan ihre Familie darüber, dass sie drei Jahre an Depressionen litt. Nun ging sie an die Öffentlichkeit. Und wurde in beiden Fällen durch die Reaktionen überrascht. „Ich dachte, dass es doch alle gewusst haben mussten“, sagte die Sprinterin und führte aus: „Meine Familie hat mitbekommen, durch welche schweren Zeiten ich gegangen bin. Und ich habe in jedem Interview erzählt, in welchem Loch ich nach meinem Unfall war. Aber im Endeffekt hat niemand gewusst, dass ich an Depressionen litt.“
Dass sie es geschafft hat, die Krankheit zu überwinden, liegt ihrer Ansicht nach vor allem an der Unterstützung der Familie. Und an der Liebe zum Laufen. „Man kann quasi sagen, dass ich den Depressionen davongelaufen bin“, sagt die dreimalige Para-Weltmeisterin. Begonnen hat alles im Jahr 2009. Bensusan, damals 18, ist ein großes Sprint-Talent. Südafrikanische Jugend-Meisterin. Bei nationalen Meisterschaften bleibt sie an einer Hürde hängen. „Ich habe mein Bein angeschaut und konnte nur noch schreien.“Sechs Monate lang hofft sie, wieder normal laufen zu könBis ein Arzt die Hoffnung zerstört. Sie hat einen Nervenschaden am rechten Unterschenkel, er bleibt teilweise gelähmt. „Ich habe mich in meinem Zimmer eingeschlossen, wollte mit niemandem reden“, erzählt sie.
Als sie am nächsten Morgen aufschließt, hat ihre Mutter einen Termin beim Psychologen gemacht. Der überweist sie zum Psychiater. Sie bekommt Medikamente, doch mental lässt sie sich auf die Therapie nur widerwillig ein. Dabei sagt sie selber rückblickend: „Ich habe mich selbst gehasst. Es gab Tage, an denen ich nicht aufstehen wollte. Es gab auch mal zwei Wochen, in denen ich mit niemandem geredet habe. Und ich hatte Essstörungen. Es war ein schwarzes, tiefes Loch.“Aber zumindest nicht dauerhaft. „Es kam und es ging“, sagt die 30-Jährige: „Aber es war immer da.“Über die Therapie spricht sie mit ihrer Mutter nie. „Und sie hat das akzeptiert, weil sie weiß, dass ich die meisten Dinge mit mir selbst ausmache“, sagt sie. Entsprechend war sogar die Mutter von der Nachricht im vergangenen Herbst etwas überrascht. Dennoch war sie „immer mein Licht und der Arm zum Anlehnen“, sagt Bensusan.
Als das schwarze Loch nach zwei
Jahren immer noch da ist, ist ihr klar: Sie muss wieder laufen. „Ich habe mich gefragt, was mich glücklich macht“, sagt sie: „Und das war das Laufen. Also musste ich wieder anfangen. Egal, wie langsam ich bin oder ob ich Letzte werde.“Sie läuft wieder, beendet die Therapie. Ende 2012 reist sie mit ihrer Mutter, zwei Brüdern und der Schwester in zehn Tagen 8000 Kilometer durch Afrika. „Auf dieser Reise habe ich mich selbst wiedergefunden“, sagt sie: „Da habe ich mich zum ersten Mal wieder glücklich gefühlt.“Laufen soll wieder ein großer Teil ihres Lebens werden. Doch sie wird nicht für den Para-Sport klassifiziert. Ihre aus Hannover stammende Mutter vermittelt sie nach Leverkusen. Sie zieht dorthin und startet durch. Bei den Paralympics 2016 in Rio holt sie dreimal Silber, bei ihren beiden Starts in Tokio in wenigen Wochen gilt sie als Favoritin. „Von dem Moment an, als ich meine Behinderung akzeptiert habe, hatte ich auch die Krankheit im Griff“, sagt Bensusan.
Seit acht Jahren ist die Krankheit nicht zurückgekommen. Und Bensusan glaubt, „dass mir das auch nicht passieren wird“. Nach einer Quarantäne wegen eines Coronapositiven Teamkollegen im Herbst habe sie „drei Tage lang nur genen. weint. Ich konnte einfach nicht mehr aufhören“. Die Depressionen kamen aber nicht zurück. „Weil sich meine Einstellung zum Leben geändert hat“, glaubt sie: „Weil ich meinen Weg gefunden habe. Ich habe nur ein Leben, das lebe ich, so wie ich es will.“Geblieben ist ihr nur eine Zwangsstörung. „Wenn ich besonders unter Stress stehe, muss ich alles zählen“, sagt sie: „Wenn ich in einen Raum komme, zähle ich Sachen. Beim Laufen zähle ich Schritte. Ich dachte immer, dass ich das tue, weil ich die Zahlen liebe. Heute weiß ich, dass es eine Kompensation ist. Aber damit“, sagt Bensusan, „kann ich sehr gut leben“.