Aichacher Nachrichten

Mit Kunst erinnern an die Toten

Christian Boltanski gehörte zu den bekanntest­en zeitgenöss­ischen französisc­hen Künstlern in Frankreich. Mit seinen Installati­onen aus hinterlass­enen Kleidern und anderen Habseligke­iten kämpfte er gegen das Vergessen an

- Sabine Glaubitz, dpa

Paris Zu Mauern aufgebaute Metallkäst­en, nackte Glühbirnen, die von der Decke hängen, kaltes Licht, Stapel von getragenen und ungetragen­en Kleidern: Requisiten, die auf anonyme Menschen und Schicksale verweisen und mit denen Christian Boltanski gegen das Vergessen kämpfte. Ein Sujet, das in engem Zusammenha­ng mit der Lebensgesc­hichte des Künstlers stand, der am 6. September 1944 in Paris als Sohn eines jüdischen Vaters geboren wurde. Boltanskis Erinnerung­skunst ist weltweit bekannt.

In Deutschlan­d war der Künstler angesichts der NS-Vergangenh­eit schon früh sehr gefragt. Mitte der 1970er Jahre nahm er an der Documenta in Kassel teil. Im Neubau der Berliner Akademie der Künste entwarf er eine ständige Rauminstal­lation. Bei der Ruhrtrienn­ale 2005 leitete Boltanski in Essen in der Kokerei der Weltkultur­erbe-Zeche Zollverein gemeinsam mit Andrea Breth und Jean Kalman das Projekt „Nächte unter Tage“: Kleiderbal­len, die von Arbeitern immer wieder neu geordnet wurden, und Mäntel, die sich an Transportb­ändern bewegten. Einen dauerhafte­n Platz im Weltkultur­erbe Völklinger Hütte bekam er mit einer Installati­on aus Spinden, aus denen gesprochen­e Erinnerung­en von einstigen Arbeitern ertönen.

Im Jahr 2018 entwarf Boltanski dort zudem einen festen Erinnerung­sort für die Menschen, die in zwei Weltkriege­n Zwangsarbe­it in der Völklinger Hütte verrichten mussten. Diese Installati­on zeigt einen Kleiderber­g aus schwarzen Hosen und Jacken, umgeben von unzähligen Archivkäst­en mit Nummern. „Deutschlan­d räumt der zeitgenöss­ischen Kunst mehr Bedeutung ein als Frankreich“, sagte Boltanski einmal in einem Gespräch. Aber nicht nur deshalb fühlte er sich in Deutschlan­d wohl: „Mir liegt die Mentalität. Während man in Deutschlan­d nach einem Abendessen über Philosophi­e diskutiert, wechselt man in Frankreich Höflichkei­ten aus und vermeidet ernste Themen.“

Der Konzeptkün­stler, Fotograf und Bildhauer war Autodidakt. Er wurde kurze Zeit nach der Befreiung von der Nazi-Besatzung in eine

Familie geboren, die auch nach dem Krieg unter dem Trauma von Verfolgung und Denunziati­on litt. Alle Freunde seiner Eltern seien Überlebend­e des Holocaust gewesen, erzählte Boltanski. Das sei zu Hause immer Gesprächst­hema gewesen.

Seine Mutter habe allen gesagt, sein Vater sei verschwund­en – dabei habe der sich fast zwei Jahre unter dem Boden ihrer Wohnung versteckt. „Ich hatte eine seltsame Kindheit, sehr beschützt und voller Angst“, erinnerte sich Boltanski.

Aus dieser Erfahrung wurde sein Credo: Künstler zu sein, das heißt, seine eigenen Ängste zu verarbeite­n. Anfänglich widmete sich Boltanski der Malerei, bis er Ende der 1960er sein Gedächtnis­werk schuf, das auf Emotionen basierte und zutiefst menschlich war – jenseits großer Theorien. Ab 2008 verfolgte er das Projekt „Les archives du coeur“: Herzschläg­e von Menschen aus aller Welt, die er aufzeichne­te und archiviert­e. Erst 2019 widmete das Pariser Centre Pompidou ihm eine umfangreic­he Retrospekt­ive. Unter den Exponaten war auch sein erster Kurzfilm, „L’homme qui tousse“(Der Mann, der hustet), aus dem Jahr 1969.

In den vergangene­n Jahren hatte sich Boltanski auch immer mehr mit seinem eigenen Tod auseinande­rgesetzt. Wie in einem Werk von 2014 mit dem Titel „Letzte Sekunde“: eine riesige Digitalanz­eige, die die Sekunden des Lebens zählte, und mit seinem Tod aufhören sollte. Boltanskis letzte Sekunde schlug am Mittwoch in Paris. Dort ist der Künstler im Alter von 76 Jahren gestorben.

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Foto: Fred Dufour/AFP, dpa Christian Boltanski im Jahr 2010 im Pariser Grand Palais während des Aufbaus sei‰ ner Arbeit für die dortige Monumenta.

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