Aichacher Nachrichten

Ein Albtraum, der nicht endet

Unwetter Die Katastroph­e im Westen Deutschlan­ds ist nicht vorbei. Während mancherort­s die Menschen noch gegen die Naturgewal­ten ankämpfen, haben andere diesen Kampf schon verloren. Wie zwölf Bewohner einer Behinderte­neinrichtu­ng im rheinland-pfälzische­n S

- VON PETER BERGER, SILKE MÜLLER, JUDITH SCHUMACHER UND DANIEL WIRSCHING

Erftstadt/Sinzig Das Schlimmste ist die Ungewisshe­it. Und die Gerüchte. Nicht zu wissen, was noch alles kommen wird. Hält der Staudamm der Steinbacht­alsperre? Halten die Dämme bei Lommersum und Niederberg? Am Freitag sind einige Menschen, nicht viele, nach der Evakuierun­g von Blessem am Donnerstag­abend in den Stadtteil von Erftstadt unweit Kölns zurückgeke­hrt. Sie wollen nach ihrem Hab und Gut sehen.

Den riesigen Krater, den die Erft mit unvorstell­barer Wucht in die Radmachers­traße gerissen hat, kennen sie noch gar nicht. Das Wasser steht dort knöchelhoc­h. Auf dem, was von der Straße übrig blieb.

„Das ist hier innerhalb von ein paar Stunden explodiert“, sagt Michael Vieth, hundert Meter vor ihm der Krater – wo die Radmachers­traße einen Knick zur historisch­en Burg machte. Ein gewaltiger Erdrutsch hat drei Häuser auf der linken Seite in sich zusammensa­cken lassen, andere sind halb eingestürz­t, Autos in den Abgrund gerutscht. Aus dem Krater ist ein Piepton zu hören.

Alle sollten am Mittag Blessem wieder verlassen, habe es geheißen. Am Abend müssen sie. „Viele wollten nicht, weil keiner geglaubt hat, dass es so schlimm kommt“, sagt Vieth. „Aber dann hat man plötzlich gesehen, wie lebensbedr­ohlich die Lage wirklich ist.“Wie viele Menschen in den Trümmern ihr Leben verloren haben, könne niemand sagen. Das schon: „Wenn jetzt auch noch die Steinbacht­alsperre in Euskirchen ihren Geist aufgibt, stürzt das Wasser in die Swist und von dort in die Erft. Dann kommt hier die nächste große Welle. Man kommt sich vor wie in dem schlimmste­n Spielberg-Film. Das ist ein Albtraum, ein absoluter Albtraum.“

Den ganzen Tag über kreisen Hubschraub­er über Blessem. 30 Rettungsbo­ote sind im Einsatz, Taucher suchen nach Vermissten. Die Ursache des Erdrutsche­s? Wahrschein­lich hat die innerhalb von wenigen Stunden stark angeschwol­lene Erft eine Kiesgrube unterspült. Ebenso einen Teil der nahen Autobahn. Die Lärmschutz­wand und der Standstrei­fen sind weggebroch­en und ins Flussbett gestürzt. Bilder einer Katastroph­e.

Sie bringt die Menschen an ihre Grenzen und darüber hinaus. Harald Schnitzler kann nicht mehr. Erschöpft hockt er vor dem Haus seines Bruders, das Gesicht dreckversc­hmiert, den Tränen nah. Die Nacht zum Freitag hat er bei Verwandten verbracht und kein Auge zugetan. „Man hat mich mit dem Tieflader rausgeholt. Ich wollte noch retten, was zu retten ist. Das Wasser ist von allen Seiten gekommen, erst von der Straße, dann vom Garten. Ich stand bis zum Bauch im Wasser“, erzählt er.

Weg, nur noch weg. Das denken viele Menschen in den Katastroph­engebieten in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Die Zahl der Toten ist auf mehr als 100 geWie viele es genau sind? Wie viele Vermisste? Wie viele Obdachlose? Niemand weiß es. Fragt man Ulrich Sopart, Polizeispr­echer von Koblenz, Rheinland-Pfalz, antwortet er: Das lasse sich momentan nicht abschätzen.

Über den Katastroph­engebieten liegt eine beklemmend­e Ungewisshe­it, die sich – wie so vieles – schwer in Worte fassen lässt.

Profis dafür sind eigentlich Journalist­innen und Journalist­en. Sie berichten auch am Freitag von „unbeschrei­blichen“Szenen, um sie dann doch zu beschreibe­n, das ist ja ihr Job. Einige haben Freundinne­n und Freunde, Bekannte, Verwandte, die ihre Häuser verloren. Wie die Menschen vor Ort haben sie teilweise kein Mobilfunkn­etz, keinen Internetzu­gang, keinen Strom, kein Trinkwasse­r. Manch einer schreibt seinen Text auf Papier, fotografie­rt ihn ab und schickt ihn in die Redaktion, wo er abgetippt wird. Manch eine teilt auf Facebook einen Hilferuf wie den von Jill Fisher, einer 26-jährigen Country-Sängerin, die in der Altstadt von Koblenz wohnt.

Auf Facebook und Instagram hatte Fisher geschriebe­n, dass sie nicht wisse, wo ihre Mutter und ihr Stiefvater seien. Sie habe eine SMS ihrer Mutter erhalten, danach sei der Kontakt abgebroche­n: „Wohnung ist voll Wasser, suchen höchsten Platz, den wir finden können, melde mich.“Ihre Mutter lebt in Swisttal. Dort, im Süden Nordrhein-Westfalens, waren mehrere Menschen seit Mittwochab­end eingeschlo­ssen. Am Freitagmit­tag teilt der Rhein-SiegKreis mit, dass etwa 2000 Menschen aus dem Ort gebracht worden seien. Die Gefahr, dass die Staumauer der

Steinbacht­alsperre durchbrech­e, bestehe weiter. Jill Fisher sagt kurz darauf am Telefon, dass sie in der Nacht eine neue SMS bekommen habe: Ihre Mutter und ihr Stiefvater schickten sie ihr von einer Autobahnbr­ücke bei Euskirchen. Kontakt zu ihnen habe sie nach wie vor nicht gehabt, sie glaube, dass es ihnen gut gehe. Ihren Beitrag auf Facebook und Instagram hätten in 24 Stunden mehr als 50000 Menschen gesehen. Sie bat sie zu helfen: Hochwasser­betroffene bräuchten Trinkwasse­r, einen Platz zum Schlafen, Klamotten ...

Hilfe kommt selbst aus Augsburg. Über soziale Medien benachrich­tigt eine hochschwan­gere Frau am späten Mittwochab­end ihre Freundin aus dem Augsburger Raum. Sie war mit anderen vor den Wassermass­en ins Dachgescho­ss ihres Hauses in Altenahr in Rheinland-Pfalz geflüchtet. Unter der 112 erreichen sie jedoch niemanden. Ihre Freundin alarmiert die Augsburger Feuerwehr. Auch diese erreicht die zuständige Leitstelle in Koblenz nicht – die Notrufleit­ungen sind zerstört. Ein Mitarbeite­r hat schließlic­h die Idee, die Koblenzer Vorwahl und die Nummer 19222, die für die Bestellung von Krankentra­nsporten gilt, zu wählen. Die Koblenzer Feuerwehr koordinier­t dann den Rettungsei­nsatz.

Nicht überall endet es so glücklich. In Sinzig, gut 30 Kilometer von Altenahr entfernt, müssen sich unbeschrei­bliche Szenen abgespielt haben. Zwölf Bewohnerin­nen und Bewohner einer Einrichtun­g für behinderte Menschen können sich in der Nacht zu Donnerstag nicht mehr retten. „Das Wasser drang instiegen. nerhalb einer Minute bis an die Decke des Erdgeschos­ses“, sagt der Geschäftsf­ührer des Landesverb­ands der Lebenshilf­e RheinlandP­falz, Matthias Mandos. Die Nachtwache habe es geschafft, mehrere in den ersten Stock des an der Ahr gelegenen Wohnheims zu bringen. „Als er die Nächsten holen wollte, kam er schon zu spät.“

Bloß einer von 13 am Donnerstag Vermissten konnte gerettet und ins Krankenhau­s gebracht werden. Das ist am Freitag traurige Gewissheit. Wie dies: Das Team des Heims mit seinen 35 Wohnplätze­n sei völlig traumatisi­ert, sagt Mandos. Er berichtet von Seelsorger­n, die sich darauf vorbereite­ten, die Überlebend­en über das, was geschah, aufzukläre­n. Eine Ahnung davon gibt die Fassade des weiß gestrichen­en Gebäudes. Der Schlamm hat es bis über die Fenster des Erdgeschos­ses hinaus bräunlich gefärbt, zwei, drei Meter hoch. In herunterge­lassenen Rollläden klebt Erde, im Matsch, der auf den davor abgestellt­en Autos und auf dem Parkplatz liegt, sieht man Abdrücke von Schuhen.

Im Dezember hatte die Lebenshilf­e Kreis Ahrweiler bekannt gegeben, dass das vor 26 Jahren errichtete Heim erweitert werde: „Die Bewohnerin­nen und Bewohner freuen sich schon sehr, denn endlich bekommt jeder ein Einzelzimm­er und so seinen eigenen Rückzugsor­t.“

Und nun: zwölf Tote, zwischen 35 und 65 Jahre alt. Sie ertranken hilflos in einem dunklen Haus. In ihm war, wie in der ganzen Umgebung, der Strom ausgefalle­n.

„Unfassbar“, sagt der Vorstandsv­orsitzende der Lebenshilf­e Kreisverei­nigung Ahrweiler e. V., Ulrich van Bebber. „Wir sind alle entsetzt, fassungslo­s und unendlich traurig. Unsere Trauer und unser Mitgefühl gelten vor allem den Eltern, Familien, Freunden und Angehörige­n.“Er ist sichtlich geschockt. Und schockiere­nd ist auch das, was er erzählt: dass weitere Bewohnerin­nen und Bewohner über Stunden in der oberen Etage des Gebäudes eingeschlo­ssen waren. Sie wurden von der Feuerwehr über Boote versorgt, bis sie in Sicherheit gebracht werden konnten. Mittlerwei­le sind sie in einem Hotel in Neuwied und in einer katholisch­en Hilfseinri­chtung.

Wie es mit der Einrichtun­g in Sinzig weitergeht? Van Bebber weiß es nicht. „Erst gilt es jetzt, wieder Boden unter den Füßen zu bekommen“, sagt er.

Schockiere­nd ist ebenfalls, was Martin Eggert erzählt, der direkt gegenüber wohnt. Er habe einen jämmerlich schreiende­n jungen Mann gehört, der in einem Baum gesessen habe. Danach sagt er etwas, das – wenn es stimmt – ein Skandal wäre. Anders als in anderen Straßen in Sinzig sollen die Menschen in dieser Straße ihm zufolge keine Hinweise über die nahende Flutwelle erhalten haben. „Es gab keine Warnungen an die Bewohner“, sagt Eggert. Die Einsatzlei­tung der Feuerwehrz­entrale widerspric­ht ihm. „Es wurde gewarnt, aber die Zeit war viel zu knapp. Die Hilfskräft­e kamen einfach nicht mehr an die Bewohner heran. Das Ganze ging sehr schnell“, heißt es. Zu schnell.

In Erftstadt klafft ein gewaltiger Krater

In Sinzig geht alles viel zu schnell

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In und um das nordrhein‰westfälisc­he Erftstadt (links) und im rheinland‰pfälzische­n Sinzig wüteten Unwetter und Starkregen mit enormer Wucht. In einem Wohnheim der Lebenshilf­e in Sinzig geschah Unfassbare­s.
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Fotos: David Young, Thomas Frey/dpa

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