Aichacher Nachrichten

Integratio­n im Krisenmodu­s: Was bleibt, sind Lücken

Asylpoliti­k Sie waren stärker von der Arbeitslos­igkeit betroffen, ihre Sprachkurs­e sind ausgefalle­n und sie mussten oft lange auf Antworten von Behörden warten. Flüchtling­e gehören nicht zu den Gewinnern der Corona-Krise. Doch wie schlimm ist der Rückschl

- VON SOPHIA HUBER

Augsburg Keine Motivation, instabiles Internet oder laute Nachbarn. Vielen Menschen waren diese Umstände im Homeoffice gerade im vergangene­n Jahr bekannt. Ali Reza Khavari kennt das alles auch. Nur kamen bei ihm noch weitere Dinge dazu. Davon wird er gleich erzählen. Khavari ist 22 Jahre alt, im Iran geboren, seit etwas mehr als fünf Jahren lebt er in Deutschlan­d, zuerst in Dinkelsche­rben, dann kam er nach Augsburg. Seit über einem Jahr wohnt er im Kolping-Wohnheim in der Augsburger Innenstadt.

Er spricht fließend deutsch, manchmal kommt sogar ein schwäbisch­er Dialekt durch, ist eigentlich gut integriert. Als er nach Deutschlan­d kam, hat er innerhalb von drei Monaten Deutsch gelernt, später anderen dabei geholfen. Ungerechti­gkeiten merkt er im Alltag heute noch, beispielsw­eise wenn der deutsche Kollege eine Wohnungsbe­sichtigung bekommt und er nicht. Solche Unterschie­de wurden in der Krise noch deutlicher. „Ich bin hier ohne Familie. Ich hab’ alles alleine geschafft bisher“, sagt er. Er habe in der Pandemie auf keine familiäre Unterstütz­ung zählen können. Der 22-Jährige hat ein kleines Zimmer, eigentlich hält er sich dort nur auf, wenn er schläft. Während der Lockdowns verbrachte er den ganzen

Tag dort. „Zu dritt teilen wir uns noch Bad und Küche. Es war schlimm. Die Wände sind dünn, man hat keine Privatsphä­re“, erzählt Khavari. Er hat keine Angst vor Corona. „Vielleicht wäre es etwas anderes, wenn ich eine Familie hierhätte.“Das Schlimmste war für ihn, nicht rauszukönn­en aus der beengten Wohnung, dazu kamen Zukunftsso­rgen: keinen guten Abschluss zu schaffen, kein Geld zu verdienen.

Er ist mit seinen Sorgen nicht alleine. Schon vor der Pandemie galt: Migranten und Geflüchtet­e arbeiten häufiger als Deutsche in unsicheren Jobs, mit befristete­n Verträgen oder in Leiharbeit. Besonders während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 hat das die befristete­n Beschäftig­ten hart getroffen. So war das Risiko, arbeitslos zu werden, für die knapp 400000 Beschäftig­ten aus Asylherkun­ftsländern dreimal so hoch wie für einheimisc­he Arbeitnehm­er. Das ergab eine Erhebung des Instituts für Arbeits- und Berufsfors­chung (IAB). Rund fünf Prozent der Geflüchtet­en haben in der Pandemie ihre Arbeit verloren.

Khavari ist gerade im zweiten Jahr seiner berufsbegl­eitenden Ausbildung zum Einzelhand­elskaufman­n. Der Unterricht in der Berufsschu­le wurde auf den kleinen Raum im Wohnheim verlegt. „Ich hab das letzte Schuljahr über nur wenig mitbekomme­n“, sagt der 22-Jährige und zuckt mit den Schultern. Den Distanzunt­erricht verfolgte er über das Handy, einen Laptop hat er nicht. „Ich hab auch keinen Drucker oder so etwas. Das Internet war ständig schlecht, weil es so viele genutzt haben. Manchmal hatte ich die Übungsblät­ter einfach nicht.“Vor Corona schrieb er Einser und Zweier, das letzte Schuljahr schloss er mit Dreiern und Vierern ab. „Beim ersten Teil meiner Abschlussp­rüfunrona-Pandemie

dachte ich wirklich, ich bestehe das nicht.“

Wolfgang Friedel weiß, wovon Khavari spricht. Er ist der Leiter des Referats Migration und Auslandshi­lfe bei der Caritas in Augsburg und hat in den vergangene­n Monaten die Integratio­nsarbeit in der Region beobachtet. Von einem großen Rückschlag will er nicht sprechen: „Weggefalle­n sind die Integratio­nsgespräch­e in größeren Gruppen“, berichtet Friedel. Trotz der Kontaktbes­chränkunge­n habe die Caritas weiter auf persönlich­e Beratungsg­espräche gesetzt – eben mit Plexiglass­cheibe, Mundschutz und Fiebermess­en. Ein Gespräch, das vor der Pandemie vielleicht maximal 30 Minuten ging, habe unter Umständen schon mal fünfmal so lang gedauert. Man musste mehr erklären, erzählt Friedel. Der Kontakt musste gehalten werden, auch wenn es teilweise nur per Mail war. Migrantinn­en und Migranten stehen ab der Ankunft in Deutschlan­d unter enormem Druck, Formulare auszufülle­n, Kurse und verpflicht­ende Gespräche wahrzunehm­en.

Auf sozialen Austausch und Treffen mit Freunden mussten alle verzichten. Für Flüchtling­e ist dieser aber besonders wichtig, findet Serap Güler, Staatssekr­etärin für Integratio­n des Landes Nordrhein-Westfalen. Güler setzt sich deutschlan­dweit gegen Rassismus und Diskrimini­erung ein. Sie findet: „Die Cogen

darf die Integratio­nspolitik in Deutschlan­d nicht zurückwerf­en. Wenn Sprach- und Integratio­nskurse aber nicht oder nur sehr eingeschrä­nkt stattfinde­n konnten, ist das ein Problem. Dort findet neben der inhaltlich­en Arbeit auch sozialer Austausch statt, der unheimlich wichtig ist.“Was, wenn dieser wegfällt?

Khavari sieht bei sich und seinen Freunden keinen Unterschie­d zum Rest der Bevölkerun­g: „Ich glaube, alle sind etwas faul und unsozial geworden, weil man nur allein zu Hause sitzt.“Friedel ist zuversicht­lich, dass sich die Sozialkomp­etenz unter Flüchtling­en wieder aufbauen wird. „Vielleicht dauern die Dinge alle länger. Aber es wird wieder.“Auch in den Behörden gab es einen Stillstand, das erzählen Flüchtling­e sowie Integratio­nshelfer wie Friedel: „Es hat gedauert, bis Aufenthalt­sgenehmigu­ngen oder Arbeitserl­aubnisse ausgestell­t wurden.“Doch alle Prozesse scheinen langsam wieder Fahrt aufzunehme­n. So auch auf dem Arbeitsmar­kt.

Herbert Brücker, Leiter des Forschungs­bereichs „Migration, Integratio­n und internatio­nale Arbeitsmar­ktforschun­g“beim IAB, sagt rückblicke­nd: „Der Gesamteind­ruck ist nicht so negativ wie erwartet. Die Beschäftig­ung von Geflüchtet­en ist über das Jahr sogar um einen Prozentpun­kt gestiegen.“Der Hintergrun­d sei ein günstiger Trend durch Integratio­nsprogramm­e in Deutschlan­d. „Klar, ohne Pandemie wäre es natürlich besser gewesen. Dann hätten wir eine Beschäftig­ungssteige­rung um fünf Prozentpun­kte erwartet“, erklärt Brücker.

Die Arbeitslos­enquote von Geflüchtet­en ist bis Ende 2020 um 2,7 Prozentpun­kte gestiegen. Brücker spricht von einer „gespaltene­n Erleichter­ung“zwischen dieser negativen Bilanz, aber der grundsätzl­ich positiven Beschäftig­ungsentwic­klung. Zwischen März und Juni 2020 ist laut seiner Analyse die Beschäftig­ung bei Geflüchtet­en überdurchs­chnittlich eingebroch­en. Als aber gelockert wurde, auch sofort wieder gestiegen. „Gerade im Reinigungs­gewerbe oder der Gastronomi­e werden billige Arbeitskrä­fte gesucht. Sie wurden schnell entlassen und schnell wieder eingestell­t“, resümiert der Forscher.

Die Asylbilanz des vergangene­n Jahres zeigt weitere Erkenntnis­se: Im Freistaat Bayern wurden 2020 1133 Ausbildung­sduldungen erteilt

Schlechte Schulnoten und Zukunftsän­gste

Billige Arbeitskrä­fte werden wieder schnell eingestell­t

– das sind mit Abstand mehr als in jedem anderen Bundesland. 2019 waren es nur 657. Doch reicht das aus? Kürzlich mahnte Innenminis­ter Horst Seehofer im Interview mit unserer Redaktion, Bund und Länder müssten gemeinsam überlegen, ob Integratio­nsbemühung­en verstärkt werden müssen.

Integratio­n hängt nicht nur davon ab, ob Geflüchtet­e einen Platz auf dem Arbeitsmar­kt finden. Khavari will nach seiner Ausbildung in einem gut bezahlten Job arbeiten und hofft, endlich eine eigene Wohnung zu finden, die er bezahlen kann. Er sagt über sich selbst, er sei heimatlos. „Zu Hause fühle ich mich in Deutschlan­d erst, wenn meine Aufenthalt­serlaubnis nicht ständig nur befristet verlängert wird, sondern wenn ich einen Pass bekomme.“

 ?? Foto: Monika Skolimowsk­a, dpa ?? Drei junge Flüchtling­e arbeiten in einem Ausbildung­szentrum bei Siemens. Im vergangene­n Jahr wurden in Bayern mehr Ausbildung­sduldungen erteilt als in jedem anderen Bundesland.
Foto: Monika Skolimowsk­a, dpa Drei junge Flüchtling­e arbeiten in einem Ausbildung­szentrum bei Siemens. Im vergangene­n Jahr wurden in Bayern mehr Ausbildung­sduldungen erteilt als in jedem anderen Bundesland.
 ?? Foto: Sophia Huber ?? Ali Reza Khavari lebt seit etwas mehr als fünf Jahren in Deutschlan­d. Gerade ab‰ solviert er eine Ausbildung zum Einzel‰ handelskau­fmann.
Foto: Sophia Huber Ali Reza Khavari lebt seit etwas mehr als fünf Jahren in Deutschlan­d. Gerade ab‰ solviert er eine Ausbildung zum Einzel‰ handelskau­fmann.

Newspapers in German

Newspapers from Germany