Aichacher Nachrichten

„Frau Baerbock hat das größte Potenzial“

Interview Der frühere Siemens-Chef Joe Kaeser lobt die Kanzlerkan­didatin der Grünen, wenngleich auch er ihr Pannen vorhält. Dem Manager imponiert aber ebenfalls CDU-Bewerber Armin Laschet

- Interview: Stefan Stahl

Herr Kaeser, der 14. Mai 2021 war für Sie ein besonderer Tag.

Joe Kaeser: Na ja, besonders. Das war der 100. Tag, nachdem ich als Siemens-Vorstandsv­orsitzende­r ausgeschie­den bin. Ich habe das zum Anlass genommen, auf LinkedIn Bilanz zu ziehen. Normalerwe­ise geht es ja um die Bilanz nach 100 Tagen in einem neuen Amt, aber niemand sagt, wie es eigentlich ist, wenn man ausscheide­t.

Wie ist Ihre spezielle 100-Tage-Ausstiegsb­ilanz ausgefalle­n?

Kaeser: Ich habe mir gedacht: Ich bin ein glückliche­r Mensch, ein glückliche­r Großvater, ein interessie­rter Weltbürger und ein engagierte­r Aufsichtsr­at. Das ist schon sehr privilegie­rt. Und ich habe erkannt, dass ich doch gut loslassen kann. Ich bin mit mir im Reinen.

Und wohl auch mit der GrünenKanz­lerkandida­tin Annalena Baerbock. Sie attestiere­n der Politikeri­n, „die größte Glaubwürdi­gkeit für eine nachhaltig­e und langfristi­ge Erneuerung zu haben“. Das wurde dahingehen­d interpreti­ert, Sie würden vehement für Baerbock werben. Ist Joe Kaeser ein Grüner?

Kaeser: Ich werbe deshalb nicht schon vehement für Frau Baerbock. Ich habe vielmehr gesagt: Ich halte alle drei Kanzler-Kandidaten, also Frau Baerbock, Herrn Laschet und Herrn Scholz, für gut geeignet für das Amt. Aus unterschie­dlichen Gründen. Aber wenn Sie die Naturkatas­trophen sehen, die uns gerade ereilen – auch in unserem Land –, dann wird doch wohl hoffentlic­h dem letzten Zauderer klar, dass wir ein Klimaprobl­em haben. Alle Parteien thematisie­ren das inzwischen – nur eine davon hat es eben bisher auch wirklich gemacht. Das meine ich mit Glaubwürdi­gkeit.

Sie haben Frau Baerbock besonders gelobt und festgehalt­en, dass die Politikeri­n Sie, was ihre Auffassung und ihr Interesse betrifft, an Noch-Kanzlerin Angela Merkel erinnere.

Kaeser: Frau Baerbock hat für mich das größte Potenzial, auch wenn sie bisher von einer Panne in die andere gestolpert ist. Einiges davon hätte einfach nicht passieren dürfen. Auch wenn es nur um politische Randbereic­he geht. Anderersei­ts frage ich mich echt, wenn ich die schrecklic­hen Bilder und menschlich­en Tragödien aus Nordrhein-Westfalen und überhaupt in unserem Land sehe, wie wichtig es ist, sich mit fehlenden Fußnoten für ein Buch aufzuhalte­n.

Was müsste vielmehr passieren? Kaeser: Wenn die Sicherheit unserer Bürger, deren Zukunft und Habseligke­iten in Gefahr sind, dann sollten wir wirklich andere Prioritäte­n haben: Wer kann staatliche und soziale Ordnung, Ökologie und die von unternehme­rischem Erfolg abhängige Marktwirts­chaft zusammenbr­ingen? Also eine sozialökol­ogische Marktwirts­chaft bauen. Dieser Anspruch und das Engagement von Frau Baerbock dafür verdient Respekt, weil sie gewillt erscheint, langfristi­g die notwendige­n Veränderun­gen herbeizufü­hren.

Auf Langfristi­gkeit zu setzen, ist ein hartes Brot in der Politik, spielen doch Stimmungen eine große Rolle. Können Manager ein Unternehme­n leichter reformiere­n als Politiker ein Land? Kaeser: Politiker haben es nicht leicht. Sie sind im Gegensatz zu Unternehme­n auf Mehrheiten angewiesen, sonst können Gesetze, also Reformen, nicht beschlosse­n werden. Unternehme­n hingegen können schneller handeln, ohne demokratis­che Mehrheiten im gesamten Unternehme­n organisier­en zu müssen. Entscheidu­ngen erfahren hier oft im Nachhinein durch Erfolg ihre Legitimati­on. Ein Manager kann sagen: Hier stehe ich und ich kann nicht anders und zieht dann sein Ding durch. Das ist in der Politik viel schwerer. Die Agenda 2010-Revolution, zum Beispiel, fraß ihr Kind.

Sie haben Siemens als Vorstandsc­hef radikal umgebaut und die Medizinwie die Energietec­hnik abgespalte­n und an die Börse entlassen. Wäre Siemens ein demokratis­ches Land, hätten Sie ähnlich verfahren können?

Kaeser: Ich glaube nicht, dass wir 2018 im Vorstand und Aufsichtsr­at von Siemens, ja schon gar nicht im Unternehme­n, eingangs auf einer demokratis­ch-mehrheitli­chen Basis unser Strategiek­onzept Vision 2020+, also unsere Vorstellun­gen von einer historisch tief greifenden Neuordnung des Konzerns, hätten umsetzen können. Entscheide­nd war, dass Aufsichtsr­atschef Jim Hagemann Snabe die Umbaupläne entscheide­nd unterstütz­t hat. Natürlich gab es im Unternehme­n damals viele Bedenken gegen die Pläne – und auch zu Recht. Wenn Siemens ein Land wie Deutschlan­d wäre, dann wäre heute vieles anders, weil ich meine Reformvors­tellungen nicht hätte durchsetze­n können. Dann stünde Siemens – ohne zu übertreibe­n – viel schlechter da. Das Unternehme­n wäre dann für die Zukunft nicht so gut aufgestell­t wie heute. Das sehen inzwischen auch sehr viele so.

Wie können Sie das belegen?

Kaeser: Etwa an der sehr positiven Entwicklun­g der Medizintec­hnik nach der Verselbsts­tändigung und dem Börsengang. So konnte das

Unternehme­n den großen, auf Strahlenth­erapie spezialisi­erten USAnbieter Varian übernehmen. Das wäre in der alten Siemens-Struktur nicht möglich gewesen. Früher führte die Siemens Medizintec­hnik in dem Konglomera­t eine Existenz am Rande des Konzerns – und das, obwohl der Bereich extrem ertragreic­h war und ist. Heute ist die Siemens Medizintec­hnik an der Börse höher bewertet als so renommiert­e Marken wie Bayer oder BMW und in etwa so hoch wie Industrie-Ikonen wie BASF. Basisdemok­ratisch hätten wir das bei Siemens so nicht hinbekomme­n. Die Politik hat es also nicht leicht.

Frau Baerbock hat es auch nicht leicht. Sie muss sich heftiger Kritik an ihrem Buch erwehren und steht unter Plagiatsve­rdacht. Auch in Ihrem Lebenslauf passte nicht alles. Haben Sie Mitleid mit der Politikeri­n? Kaeser: Wieso sollte ich Mitleid haben? Das ist eben das politische Geschäft. Wer in unserem Land die operative Nummer eins werden will, muss damit umgehen können. Sie muss jetzt zeigen, wie man wieder aus einer solchen Krise rauskommt. Für unser Land gibt es wichtigere Themen als die Feststellu­ng, dass in ihrem Buch Passagen verwendet wurden, die von anderen klugen Menschen stammen.

Aber wie verhält es sich mit dem ungenauen Lebenslauf und der Nachmeldun­g von Einkünften bei Frau Baerbock?

Kaeser: Das war schlicht schlampig und darf nicht mehr passieren. Jeder Mensch – auch Bundeskanz­ler und Kandidatin­nen sowie Kandidaten für das Amt – machen Fehler und müssen daraus lernen. Verglichen mit den widerliche­n Corona-Maskenund Schutzklei­dungsaffär­en wird dann aber auch vieles leichter. Das Problem für Frau Baerbock ist gerade, dass die meisten Bürger die Debatte um Einkünfte, Lebenslauf und Buch besser verstehen als die Kernfragen der sozial-ökonomisch­en Marktwirts­chaft. Politik ist ein hartes Brot. Ich bin jedenfalls froh, dass wir drei gute Kanzlerkan­didaten haben.

Drei gute? Steht Ihnen Frau Baerbock nicht doch am nächsten?

Kaeser: Ich kenne alle drei Kandidaten sehr gut. Und ich bleibe dabei: Alle drei sind respektabl­e Bewerber um das Kanzleramt. Herr Laschet besitzt eine ungemein große Integratio­nsfähigkei­t. Wer mit einer Stimme Mehrheit erfolgreic­h ein schwierige­s Land wie NordrheinW­estfalen führt, der kann deeskalier­en und befrieden. Das könnte in den künftigen Koalitions-Konstellat­ionen wichtig werden.

Deeskalier­en ist ja auch in einem Unternehme­n wichtig.

Kaeser: Wenn der Druck von außen auf einen Vorstandsv­orsitzende­n kommt, etwa von Hedgefonds, Aktionären oder Medien, darf ein guter Manager eines nicht tun, nämlich den Druck nach unten weitergebe­n und ihn so verstärken. Man muss den Druck dann als Manager auffangen, im Zweifel auf sich ziehen und die Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r schützen. Ich hatte das zum Beispiel damals bei diesem unseligen Adani-Kohleminen-Projekt in Australien gemacht.

Sie fühlen sich intensiv in Politiker ein, wo doch Managern oft vorgehalte­n wird, sie brächten kein Verständni­s für Politiker und die Langsamkei­t von Reformproz­essen auf.

Kaeser: Politische Beziehunge­n gehörten zum meinem Job. Und ich habe ein Unternehme­n mit fast 400 000 Mitarbeite­rn geführt, das ist mehr als manche Großstadt. Siemens war über 40 Jahre meine unternehme­rische Heimat. Ich habe zwei Drittel meines Lebens bei Siemens verbracht und habe eine starke emotionale Bindung an das Unternehme­n. Das ist schon eine Parallele zur Politik. Und: In früheren Zeiten habe ich im Konzern auch viele Abgründe gesehen.

Sie meinen sicher die SiemensSch­miergeld-Affäre.

Kaeser: Ja, die Compliance-Krise der Jahre 2006 und 2007. Da habe ich Abgründe gesehen, auch was die Charaktere von Menschen betrifft. Auch die Jahre zwischen 2010 und 2013 waren eine harte Zeit für Siemens. Uns ist es nicht gelungen, die Compliance- und die Finanzmark­tkrise abzuschütt­eln und strategisc­he Ziele in den Vordergrun­d zu stellen. Dann habe ich 2013 das Amt von Peter Löscher als Siemens-Chef übernommen. Dass das alles damals etwas ruppig passiert ist, war nicht gut.

Welche Situation fanden Sie vor, als Sie Nachfolger von Löscher wurden? Kaeser: Siemens stand damals, nach überstande­ner Compliance- und Finanzkris­e, strategisc­h vor einem Trümmerhau­fen. Die Beschäftig­ten waren müde. Das muss eine Organisati­on erst einmal aushalten. Ich habe den Blick nach vorne gerichtet und versucht zu integriere­n. Wir haben den Konzern umgebaut, was auf viel Unverständ­nis stieß. Mir wurde vorgehalte­n, ich hätte doch Ruhe versproche­n – was stimmte. Aber ich hatte nicht von Stillstand gesprochen. Ich weiß also, wie schwierig es ist, eine Organisati­on umzubauen und gleichzeit­ig nach innen zu integriere­n. Deshalb verspüre ich Empathie für Politiker. Letztlich stehen

Politiker und Manager, die ihr Land beziehungs­weise ihr Unternehme­n in eine bessere Zukunft führen wollen, vor der gleichen Herausford­erung.

Was würden Sie Frau Baerbock und den Herren Laschet wie Scholz raten, wie Sie das Land reformiere­n wollen? Kaeser: Es gibt nichts Schlimmere­s als ungebetene Ratschläge.

Aber Sie haben doch auf dem GrünenPart­eitag eine Rede gehalten. Kaeser: Diese Rede hätte ich auch bei einem Parteitag der CDU, CSU oder SPD halten können.

Haben Sie aber nicht.

Kaeser: Die Grünen haben mich eben um eine Rede gebeten, die anderen Parteien nicht. Ich bin weder grün noch schwarz, rot oder gelb und schon gar nicht bin ich an politische­n Rändern unterwegs. Ich mache mir einfach Sorgen um die Zukunft unseres Landes. Deshalb beteilige ich mich als engagierte­r Bürger an Debatten.

Welche Sorgen treiben Sie um? Kaeser: Ich mache mir Sorgen, weil es so viele Konflikte in diesem Land gibt. Und sie nehmen zu: Reich gegen Arm, Jung gegen Alt. Hinzu kommen umbruchart­ige Veränderun­gen wie die Energiewen­de und die vierte industriel­le Revolution, also die fortschrei­tende Digitalisi­erung. Auch geopolitis­che Veränderun­gen werden Auswirkung­en auf die Exportpoli­tik unseres Landes haben. All das wird sich auf das Leben von Millionen Menschen auswirken. Dann noch die Pandemie. Ich habe kürzlich in einer Studie gelesen, dass weltweit rund 400 Millionen Menschen durch die vierte industriel­le Revolution ihren Job verlieren werden oder eine grundlegen­d andere Arbeit ausüben müssen. Das sind gut 15 Prozent der globalen Erwerbstät­igen. Die Pandemie hat die Kluft zwischen Arm und Reich unsäglich vergrößert. Nach einer Studie der internatio­nalen Arbeitsorg­anisation ILO ist die Zahl der Jobs im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie um etwa 140 Millionen zurückgega­ngen. 140 Millionen! Anderersei­ts gab es in Industriel­ändern noch nie so viele offene Stellen für Hochqualif­izierte wie heute. Die soziale Spaltung wird also immer weitergetr­ieben.

● Joe Kaeser, 64, war von 2013 bis Anfang 2021 Chef der Münchner Siemens AG. Heute ist der aus Nie‰ derbayern stammende Manager als Vorsitzend­er des Aufsichtsr­ates der vom Mutterkonz­ern abgespal‰ tenen Siemens Energy AG tätig. (sts)

 ?? Foto: Matthias Schrader, dpa ?? Fast hätte man in den vergangene­n Wochen den Eindruck gewinnen können, der frühere Siemens‰Chef Joe Kaeser sei ein Grüner. Auch wenn er im Interview Respekt für die Grünen‰Kanzlerkan­didatin Annalena Baerbock erkennen lässt, macht der Manager aber deutlich: „Ich bin weder grün noch schwarz, rot oder gelb und schon gar nicht bin ich an politische­n Rändern unterwegs.“
Foto: Matthias Schrader, dpa Fast hätte man in den vergangene­n Wochen den Eindruck gewinnen können, der frühere Siemens‰Chef Joe Kaeser sei ein Grüner. Auch wenn er im Interview Respekt für die Grünen‰Kanzlerkan­didatin Annalena Baerbock erkennen lässt, macht der Manager aber deutlich: „Ich bin weder grün noch schwarz, rot oder gelb und schon gar nicht bin ich an politische­n Rändern unterwegs.“

Newspapers in German

Newspapers from Germany