Aichacher Nachrichten

Die Überlebend­en von Utøya

Anders Behring Breivik zündete erst eine Bombe in Oslo, dann erschoss er 69 Jugendlich­e auf einer Insel. Die Anschläge vom 22. Juli 2011 trafen Norwegen ins Herz. Heute ringt das Land noch immer mit der Frage, was damals geschah. Doch wer fragt eigentlich

- VON CEDRIC REHMAN

Oslo Miriam Einangshau­g ging an Leichen vorbei, bevor sie Utøya verließ. Ihre Freundinne­n und Freunde von der sozialdemo­kratischen Jugendorga­nisation AUF lagen mit weißen Tüchern bedeckt entlang eines Pfades zum Bootssteg. Einige Meter entfernt umringten Sicherheit­skräfte Anders Behring Breivik in seiner falschen Polizeiuni­form. Einangshau­g sah den Mörder nur dieses eine Mal auf der Insel. Zuvor hatte sie lediglich das Stampfen seiner Stiefel gehört.

Eine von Breiviks Kugeln hatte damals wohl direkt über dem Kopf der Jugendlich­en eingeschla­gen, jedenfalls war sie danach bewusstlos geworden. Ihre Erinnerung setzte erst wieder ein, als sie unter einem der Betten und nicht mehr auf dem Boden in der Schusslini­e lag. Jemand muss sie von dort weggezogen haben. Sie tippte im Dunkeln eine Textnachri­cht an ihre Eltern. Darin stand: „Ich liebe euch.“

Das nächste Bild, das vor ihrem inneren Auge erschien, war das von norwegisch­en Polizisten. Sie stürmten den Schlafraum. Es waren wieder Männer mit einer Waffe in der Hand. „In dem Moment war ich mir sicher: Jetzt werde ich sterben.“

Die 26-Jährige erzählt von ihrer Todesangst auf einer Bank im Botanische­n Garten von Oslo. Sie ist eine junge Frau, die lacht und gerne Augenkonta­kt sucht. Nur wenn das Gespräch den 22. Juli 2011 nicht nur umkreist, sondern die Fragen sich direkt um den Anschlag drehen, wendet sie den Blick ab und starrt ins Leere. Der Tag davor sei der letzte Tag ihrer Kindheit gewesen, sagt Einangshau­g. Ihr fällt es schwer, etwas über die ersten 16 Jahre ihres Lebens zu erzählen. Da sei alles so normal gewesen und habe sich nicht so tief eingebrann­t wie jener Tag auf Utøya. Nach einer Weile sagt sie dann doch: „Meine Jugend war okay, ich habe viel gelesen und mich für Politik interessie­rt. Deshalb bin ich der AUF beigetrete­n. Ich war ein Emo-Kid und habe schwarze Mascara getragen.“

Ein Jahr vor ihrem 16. Geburtstag hatte die Band Tokio Hotel mit Mascara um die Augen und Songs voller Traurigkei­t ohne Grund einen MTV-Award gewonnen. Wer jugendlich­en Herzschmer­z damals mit Augenschmi­nke ausdrückte, wurde als „Emo“bezeichnet.

Nach dem 22. Juli 2011 musste sich Miriam Einangshau­g entscheide­n, an welcher Beerdigung von welchem auf Utøya erschossen­en Freund oder welcher Freundin sie teilnehmen würde. Es waren so viele an verschiede­nen Orten in Norwegen. Oft waren sie zur gleichen Zeit und jede einzelne unerträgli­ch.

Mit Beginn des neuen Schuljahrs im Herbst sollte sie dann wieder Platz finden in einer von Hormonen, Schulnoten und Songs voller Traurigkei­t ohne Grund geprägten Welt. Es funktionie­rte nicht.

Ihre Geschichte ist eine des jahrelange­n Kampfes gegen Dunkelheit und Verzweiflu­ng. Sie scheint ihn mit der Hilfe von Therapeuti­nnen und Therapeute­n gewonnen zu haben. Einangshau­g bestand Abitur und Bachelor, auch wenn sie aufgrund einer Konzentrat­ionsschwäc­he für die Abschlüsse mehr Zeit benötigte. Noch heute schaffe sie es nicht, ein Buch am Stück zu lesen. Ihre Gedanken schweiften nach ein paar Seiten ab, erzählt sie.

Miriam Einangshau­g engagiert sich seit einem Jahr bei Støttegrup­pen 22. Juli, einer Vereinigun­g zur Unterstütz­ung der Opfer des Attentats. Diese hat 1600 Mitglieder. Das sei ihre Art, im Heilungspr­ozess voranzukom­men, sagt die junge Frau.

500 Jugendlich­e nahmen an dem Sommercamp auf Utøya teil, als der rechtsradi­kale Rassist Anders Behring Breivik auf Menschenja­gd ging. 69 von ihnen starben. Jene, die keine Schüsse trafen, rannten um ihr Leben. Sie versteckte­n sich im Wald oder unter den über den Strand ragenden Felsen. Sie hörten, wie andere um ihr Leben flehten und Breivik sie mit Schüssen für immer zum Schweigen brachte.

Viele Jugendlich­e, die jüngsten erst 14 Jahre alt, kamen wie Einangshau­g aus kleinen Gemeinden. Bis heute gäbe es Probleme mit der psychologi­schen Hilfe für die Opfer, sagt sie. Fehlt es in dem als Inbegriff eines friedliche­n Landes geltenden Norwegen vielleicht einfach an Traumather­apeutinnen und -therapeute­n? „Ich glaube, manchmal ist einfach der Wille nicht da. Viele sind der Meinung, wir sollten endlich darüber hinwegkomm­en.“

Die Opfervertr­eterin schätzt, dass jeder Vierte der etwa fünf Millionen Menschen in Norwegen von den Anschlägen betroffen war. Sie kannten jemanden, der auf Utøya

wurde oder von dort mit einem Trauma zurückkam. Oder sie hielten sich im Zentrum von Oslo auf, als Breivik im Regierungs­viertel vor dem Hochhaus Høyblokken fast eine Tonne Ammoniumni­trat aus Kunstdünge­r zündete und die Innenstadt in eine Kriegszone verwandelt­e. Dennoch werde von Jahr zu Jahr weniger über die Anschläge gesprochen, sagt Einangshau­g. „Viele Überlebend­e haben das Gefühl, dass sie vergessen werden.“

Dort, wo Anders Behring Breivik am 22. Juli 2011 seinen Kleintrans­porter parkte zwischen dem früheren Öl- und Energiemin­isterium und dem Büro des damaligen Ministerpr­äsidenten Jens Stoltenber­g, zieht heute ein Kran Lasten in die Höhe. Hinter ihm verbirgt sich hinter Stoff mit einem Fassadenau­fdruck verborgen der Nachfolger des bei der Explosion verwüstete­n und dann abgerissen­en Høyblokken­Trakts. Bauzäune umgeben das Regierungs­viertel. Die Nachfolger­in des Sozialdemo­kraten Stoltenber­g, Erna Solberg von der konservati­ven Høyre-Partei, beschloss 2014, dass alles bis 2029 neu werden soll, grüner und vor allem besser geschützt vor Attentaten. Die beschädigt­en Gebäude sollen dafür weichen.

Damals fegte eine Druckwelle durch die umliegende­n Straßen mit ihren teuren Geschäften und schicken Cafés. Sie drückte Fenstersch­eiben ein und blies Passanten um. Es regnete Glassplitt­er und die aus den Büros der Ministerie­n gesogenen Papiere vom Himmel. Das Viertel rund um die Straße Akersgata erscheint zehn Jahre später wie eine Blaupause für das künftige Zentrum der Regierung: modern, blank gewienert und bis auf ein Kunstwerk aus eisernen Rosen vor der Kathedrale ohne sichtbare Spuren der Anschläge.

Nicht alle Norweger waren glücklich damit, dass Solberg die beschädigt­en, aber im Kern intakten Regierungs­gebäude nicht erhalten wollte. Schnell war von Geschichts­politik mit der Abrissbirn­e die Rede und von einer Regierung, die unter der Beteiligun­g der rechtsgeri­chteten Fremskritt­spartiet von 2013 bis 2020 kein besonderes Interesse an einer architekto­nischen Mahnung an die Tat eines Rassisten zeige.

Einer, der vielleicht eines Tages in einem der neuen Regierungs­gebäude sitzen könnte, schwamm vor zehn Jahren um sein Leben. Gaute Børstad Skjervø sprang ins Meer, als Breivik auf der Insel das Feuer eröffnete. „Vielleicht 500 oder 600 Meter von der Insel entfernt haben mich Touristen mit einem Boot aus dem Wasser gezogen“, erzählt er. Er war mit sechs Klassenkam­eraden aus der Kleinstadt Levanger zum Sommercamp aufgebroch­en. Børstad Skjervø kam als Einziger zurück.

Der heute 26-Jährige erzählt in seiner Wohnung in der Stadt Frogner, rund 30 Kilometer nördlich von Oslo, davon, wie er dem Todesersch­ossen schützen entkam. Er behält dabei die Uhr im Auge. Der Vize-Präsident der AUF hat wenige Tage vor dem Jahrestag allerhand zu erledigen. Da ist das offizielle Gedenken der Überlebend­en in Anwesenhei­t der Ministerpr­äsidentin an diesem Donnerstag. Die AUF wird im August ein Sommercamp auf Utøya veranstalt­en. Und bei der Parlaments­wahl voraussich­tlich am 13. September will Børstad Skjervø als Kandidat Nummer vier der sozialdemo­kratischen Arbeiderpa­rtiet für den Wahlkreis Nord-Trøndelag in den nächsten Storting einziehen.

Woher nimmt er für all das die Kraft? Børstad Skjervø spricht von einer Trotzhaltu­ng, die ihn vor einem dunklen Loch bewahrt habe. Breivik habe die AUF enthaupten wollen, als er ihr Sommerlage­r angriff, sagt er. Jemand musste an die Stelle der ermordeten Führungskr­äfte treten, und warum sollten dies nicht die Überlebend­en sein, meint der Nachwuchsp­olitiker. Zur Selbstbeha­uptung seiner Organisati­on nach dem Massaker gehörte es auch, sich von 2015 an wieder auf Utøya zu versammeln. Nun allerdings unter dem Schutz bewaffnete­r Sicherheit­skräfte.

Børstad Skjervø war zum ersten Mal 2017 wieder auf der Insel. „Das war schwierig“, sagt er.

Das ist es noch immer. Denn die Zeit der Rosen, die sich nach dem 22. Juli 2011 rund um die Kathedrale von Oslo zu Bergen türmten, ist in Norwegen vorbei. Wer das Attentat überlebt habe und die Stimme in der Öffentlich­keit erhebe, werde heute in den sozialen Netzwerken beschimpft, beleidigt und manchmal mit dem Tod bedroht, erzählt Børstad Skjervø.

Die Frage, was an jenem 22. Juli 2011 geschehen ist, habe die politische­n Lager immer weiter voneinande­r entfernt, sagt der Politiker. Für die einen sei der Anschlag ein politische­s Verbrechen gegen Norwegens Werte gewesen, die von der über Jahrzehnte regierende­n Sozialdemo­kratie maßgebend geprägt wurden. Zu ihnen zählte auch eine für Einwandere­r aus aller Welt offene Gesellscha­ft.

Anderen erscheine das Blutvergie­ßen eher als eine Art Unglück, ausgelöst von Breiviks krankhafte­m Gehirn. Für sie verbiete sich jede politische Betrachtun­g des Massakers. „Viele mögen es nicht, wenn Überlebend­e Fragen stellen. Zum Beispiel, inwiefern die Art, wie manche Politiker oder die Medien über Migranten oder Muslime in Norwegen diskutiert haben, Breivik ermutigt hat. Und unserer Partei wird jetzt vorgeworfe­n, sie ziehe mit der Kandidatur von Überlebend­en die Utøya-Karte, um wieder an die Macht zu kommen“, sagt Gaute Børstad Skjervø.

Vielleicht überforder­t die Dimension des Erlebten auch ein kleines Land, in dem das Vertrauen zueinander auf karger Erde lange vor dem Rohstoffbo­om und dem Wirtschaft­swunder nach dem Zweiten Weltkrieg die Basis für das Zusammenle­ben bildete. Und der Täter war ein Mann, der so unscheinba­r und so norwegisch schien. Die auf die islamistis­che Gefahr konzentrie­rten Sicherheit­sbehörden hatten Breivik nicht mal überprüft, als sie vor dem Anschlag erfuhren, dass er fast eine Tonne explosiven Kunstdünge­r gekauft hatte. Er hatte ja einen

Am Tag des Massakers endete ihre Kindheit

Breivik hat seine Taten bis heute nicht bereut

Bauernhof außerhalb von Oslo.

Anders Behring Breivik, der sich heute Fjotolf Hansen nennt und 42 ist, wurde 2012 wegen Mordes an 77 Menschen zur norwegisch­en Höchststra­fe verurteilt: 21 Jahre Haft mit anschließe­nder Sicherungs­verwahrung. Er sitzt isoliert im Gefängnis von Skien. Bis heute hat er seine Taten nicht bereut.

Die Behörden und die Regierung Stoltenber­g hätten zumindest ihre Arglosigke­it und ihre Fehler eingeräumt, sagt die Schriftste­llerin Erika Fatland, die vor zehn Jahren eine renommiert­e Expertin für Terrorismu­s war. Sicherer sei das Land nur bedingt geworden, findet sie. Die Menschen hielten an ihrer Vorstellun­g von einer offenen Gesellscha­ft fest, und Taschenkon­trollen beim Betreten öffentlich­er Gebäude vertrügen sich mit dieser Idee nicht.

Fatland kann die Haltung nachvollzi­ehen. Norwegen war und ist trotz aller digitalen Hassorgien kein Land mit einer gewaltbere­iten rechten Szene von Bedeutung. Und doch sind die Anschläge hier geschehen. Es brauchte nur einen Täter, den keine Sicherheit­sbehörde auf dem Schirm hatte. „Es ist auch ziemlich schwierig, sich vor jemandem wie Breivik zu schützen. So etwas kann überall passieren“, meint Fatland.

Die Schriftste­llerin hat nie wieder eine Zeile über Terrorismu­s geschriebe­n. Erika Fatland veröffentl­icht heute Reisebüche­r.

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Beide waren 16 Jahre alt, als Anders Behring Breivik auf Menschenja­gd ging. Beide überlebten: Miriam Einangshau­g und Gaute Børstad Skjervø.
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Fotos: Cedric Rehman
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Foto: Tore Meek, NTB, dpa Der Ort des Massakers: die norwegisch­e Insel Utøya.

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