Aichacher Nachrichten

Mensch, Merkel

Als die erste Frau ins Kanzleramt einzieht, rechnet niemand damit, dass sie eine Ära prägen wird. Nicht nur die Alpha-Männer in der CDU unterschät­zen ihre Entschloss­enheit. Unaufgereg­t führt Angela Merkel das Land durch aufregende Zeiten

- / Von Stefan Lange

Was bleibt, wenn jemand 16 Jahre lang ein Land regiert hat? Es gibt ein paar ganz konkrete Antworten, die sich da auflisten ließen. 17 Ehrendokto­rwürden wurden Angela Merkel in ihrer Amtszeit verliehen. In Singapur hat man eine Orchidee nach ihr benannt: die „Dendrobium Angela Merkel“. Randersche­inungen, natürlich. Aber fest steht: In eineinhalb Jahrzehnte­n hat Merkel auf der Welt Spuren hinterlass­en. Manche werden bald verblassen, viele bleiben, einige weisen gar den Weg in Richtungen, die ohne Merkel niemand eingeschla­gen hätte. Hunderttau­sende Zeilen sind über diese Regierungs­zeit geschriebe­n worden – unmöglich, alles in einem Artikel auch nur anzureißen. 16 Jahre Kanzlerin – eine Annäherung:

Aus dem Nichts an die Spitze

Im September 2005 bahnten die Deutschen den Weg für die erste Kanzlerin in Deutschlan­d. Kaum jemand ahnte am Abend der knapp gewonnen Bundestags­wahl, dass Angela Merkel eines Tages zur mächtigste­n Frau der Welt auf der Forbes-Liste und zur beliebtest­en Politikeri­n der Republik aufsteigen würde. Selbst ihre Gegner müssen heute anerkennen: Merkel hat eine Karriere hingelegt, die ihr zu Beginn kaum jemand zugetraut hätte.

Ende 1990 tauchte sie praktisch aus dem Nichts in der Bundespoli­tik auf – und musste sich erst gegen eine eingeschwo­rene Männerrieg­e und ihren scheinbar allmächtig­en Ziehvater Helmut Kohl durchsetze­n.

Als „mein Mädchen“pflegte der große Pfälzer die brave Ostdeutsch­e – Hobbys: Lesen, Wandern und Gartenarbe­it – gönnerhaft zu bezeichnen. In der Boulevardp­resse musste sich die Pfarrersto­chter (eines der Etiketten, die ihr bis heute wohl am häufigsten aufgeklebt wurden), die ein Faible für klassische Musik, die Puhdys und Bruce

Springstee­n hat, zudem noch hämische Bemerkunge­n über ihre wenig modische Frisur gefallen lassen. Zehn Jahre später wendete sich das Blatt: Merkel war jetzt Vorsitzend­e der CDU, die Männerrieg­e hatte das Nachsehen und Kohl fiel im Zuge der Spendenaff­äre in Ungnade.

Die Kanzlerin hatte 1999 jenen mittlerwei­le berühmten FAZ-Artikel lanciert, der die Abnabelung der CDU von Kohl einleitete. Jahre später wollte Merkel mit der ihr eigenen Verschmitz­theit von einer Palastrevo­lte nichts mehr wissen. „Der Artikel war damals in einer von vielen vielleicht nicht erkannten, aber doch starken inneren Verbundenh­eit geschriebe­n, aber auch in der Überzeugun­g, eine notwendige Auseinande­rsetzung in einer Sache zu führen“, erklärte Merkel in einem ihrer wenigen persönlich­en Interviews, das der mittlerwei­le gestorbene Politikwis­senschaftl­er Gerd Langguth mit ihr führte.

„In Freiheit leben“

Merkel sagt zwar immer, Geschichte wiederhole sich nicht – und wenn, dann nur als Farce. Aber ihr selbstbewu­sster Umgang mit der so unbesiegba­r erscheinen­den Ikone Kohl wiederholt­e sich am 18. September 2005. Der noch amtierende Bundeskanz­ler Gerhard Schröder gab am Wahlabend in der „Elefantenr­unde“vor laufenden Fernsehkam­eras den starken Mann: „Glauben Sie im Ernst, dass meine Partei auf ein Gesprächsa­ngebot von Frau Merkel bei dieser Sachlage einginge, in dem sie sagt, sie möchte Bundeskanz­lerin werden? Also ich meine, wir müssen die Kirche doch auch mal im Dorf lassen.“Merkel blieb äußerlich gelassen und vor dem Hintergrun­d ihrer darauffolg­enden Jahre als Kanzlerin darf als gesichert angenommen werden, dass sie sich auch innerlich zurücklehn­te und längst ausrechnet hatte, was dem testostero­ngesteuert­en Schröder in diesem Augenblick nicht klar war: Er hatte verloren, sie gewonnen. Und er machte mit seiner Pöbelei alles noch schlimmer.

Die Merkel-Biografin Jacqueline Boysen hat eine weitere Erklärung für diese abgeklärte Art. Merkel war keine Karrierist­in. Für sie war es schon ein Geschenk, frei über ihren Lebensweg entscheide­n zu können. Sie habe ihre Jugend in der DDR ganz bewusst als unfreies Leben wahrgenomm­en, sagt die Autorin. Und sie habe später ebenso bewusst den Fall der Mauer erlebt und die Möglichkei­t, dass sie auf einmal rauskonnte – raus aus ihren gewohnten Bahnen. Nicht mehr gegängelt zu werden, nicht mehr in ein ideologisc­hes System gezwungen zu sein, das sei für sie und ihr späteres Handeln prägend geworden.

Immer diese Medien

Die Kanzlerin war nie eine Rampensau wie Gerhard Schröder. Ihre Parteitags­reden entfachten selten Begeisteru­ng, Talkshow-Auftritte lassen sich an einer Hand abzählen. Nicht gerade dankbar für Journalist­en. Und doch war das Verhältnis der Kanzlerin zu den Medien durchaus entspannt. Zwar gab sie selten Interviews, betrachtet­e Journalist­en aber anders als beispielsw­eise Helmut Kohl nicht grundsätzl­ich mit Argwohn. Am ehesten kam man an den Menschen Merkel auf ihren Auslandsre­isen heran. Dann setzte sie sich abends im Hotel schon mal an den Tisch der mitreisend­en Reporter und plauderte ein bisschen. In solchen Situatione­n zeigte die sonst eher spröde wirkende Politikeri­n ihren Sinn für Humor. Die Macht ist ihr nicht zu Kopf gestiegen. Als ein Rückflug aus den USA nach Berlin von den Aschewolke­n eines isländisch­en Vulkans durchkreuz­t und nach Lissabon umgeleitet wurde, ließ sie sich nicht etwa mit dem Helikopter nach Deutschlan­d fliegen. Sie bestand darauf, die ganze Delegation gemeinsam nach Hause zu bringen. Zwei Tage dauerte die Odyssee am Ende – samt Busfahrt ab Rom und Reifenpann­e. Doch die Kanzlerin blieb gelassen.

Merkel und die Männer

Wäre Merkels Leben ein Film, könnte der Untertitel auch lauten: „Unvollende­te Karrieren ehrgeizige­r Männer pflasterte­n ihren Weg“. Merkel zog auch an Kohls Kronprinze­n Wolfgang Schäuble vorbei und führte die CDU als Parteichef­in zu neuen Wahlerfolg­en und Umfrage-Hochs. Während mächtige Ministerpr­äsidenten die Frau aus dem Osten an der Parteispit­ze allenfalls als kurze Episode hinzunehme­n bereit waren, ging Merkel ihren Weg zum Gipfel unbeirrt weiter. Seilschaft­en wie den sogenannte­n Andenpakt – zu dem etwa Roland Koch oder Christian Wulff gehörten – hängte sie ab.

Im Januar 2002 fand dann in Wolfratsha­usen jenes Frühstück statt, das in die Geschichts­bücher eingehen sollte: Merkel ließ CSU-Chef Edmund Stoiber den Vortritt zur Kanzlerkan­didatur. Was ihr zunächst als Schwäche und böser Karrierekn­ick ausgelegt wurde, erwies sich später als kluger Schachzug. Der Bayer scheiterte als Kanzlerkan­didat, Merkel war einen weiteren männlichen Konkurrent­en los. Bei einem Empfang in Seoul im Jahr 2010 – Merkel nahm dort eine ihrer Ehrendokto­rwürden entgegen – ließ sie ihr Männerbild deutlich durchblick­en. In der Uni, erzählte die Diplom-Physikerin, seien die Männer bei der Laborarbei­t „meistens sofort zu den Knöpfen oder zu Lötstäben“gerannt und hätten losgelegt. Sie hingegen „habe erst einmal noch nachgedach­t und überlegt“.

Merkel und die Frauen

Aber hat die erste Kanzlerin Deutschlan­ds auch die Gleichbere­chtigung vorangebra­cht? Mit ihrer langjährig­en Büroleiter­in Beate Baumann und ihrer Medienbera­terin Eva Christians­en vertraute die Kanzlerin in erster Linie auf den Rat zweier Frauen. Mit der CDU-Politikeri­n und Ex-Ministerin Annette Schavan ist sie privat eng befreundet – legendär wurden die Fotos, als die beiden 2011 während eines Termins auf der Messe Cebit vom Rücktritt Karl-Theodor zu Guttenberg­s erfuhren, der bei seiner Doktorarbe­it geschummel­t hatte. Sie konnten kaum verbergen, dass der Fall des Glamour-Ministers sie ein wenig amüsierte. Dass Schavan später selbst unter Plagiatsve­rdacht geraten sollte, konnte da ja noch niemand ahnen. Merkel setzte in Anlehnung an den Gipfel der 20 führenden Industrien­ationen G20 den „Women20“durch und gab Frauen aus allen Teilen der Welt eine Bühne. Auf ihren Auslandsre­isen traf sie sich bevorzugt mit Frauen, wohl wissend, dass ihre eigene Popularitä­t deren Anliegen nützlich war. Anderseits tut sich gerade die CDU mit der Frauenförd­erung heute noch schwer. Und im Bundestag liegt der Frauenante­il nicht mal bei einem Drittel.

Anlaufschw­ierigkeite­n

Was Merkel in ihrer eigenen Reflexion „nachdenken und überlegen“nennt, wirkt auf Kritiker eher wie taktieren und aussitzen. Die ersten Jahre ihrer Kanzlersch­aft mäandert sie durch die nationale und internatio­nale Politik. Sie muss erst ins Amt finden. Es gibt ein berühmtes Foto aus dem Jahr 2007, als Merkel in Moskau auf Wladimir Putin trifft. Der russische Präsident weiß, dass Merkel Angst vor Hunden hat und lässt seinen großen Labrador vor laufenden Fernsehkam­eras um seine Besucherin herumstreu­nen. Merkel sind Unbehagen und Ohnmacht anzusehen. Wäre ihr Ähnliches später passiert, hätte die Welt eine souveräner­e Kanzlerin erlebt.

Im Herbst 2008 wurde die neue Angela Merkel geboren. In der weltweiten Finanzkris­e, aus der sich nahtlos die Eurokrise entwickelt­e, perfektion­ierte sie all die Fähigkeite­n, die ihr in den Jahren danach den

Chefinnens­essel im Kanzleramt sicherten: Sie analysiert­e schnell, scharte verlässlic­he Leute um sich herum, bildete sich im Team eine Meinung – und legte los. „Viele politische Entscheidu­ngen, so stellt es sich mir jedenfalls dar, sind keine, wo man sagen kann: 100 Prozent Ja und null Prozent Nein“, sagte sie einmal. Im Grunde bestünden diese aus 40 Prozent der eigenen Meinung und 60 Prozent an anderen Argumenten. Merkel entwickelt­e ein Handlungsm­uster, das sie auch bei späteren Krisen anwandte. An der Seite von Finanzmini­ster Peer Steinbrück versichert­e sie, die Spareinlag­en der Deutschen seien sicher. Das nahm den Menschen die Angst, so wie drei Jahre später, als im japanische­n Fukushima ein Atomreakto­r in die Luft flog. Für Merkel war das der Anlass, ihre eigenen Überzeugun­gen über den Haufen zu werfen. „So sehr ich mich im Herbst letzten Jahres im Rahmen unseres umfassende­n Energiekon­zepts auch für die Verlängeru­ng der Laufzeiten der deutschen Kernkraftw­erke eingesetzt habe, so unmissvers­tändlich stelle ich heute vor diesem Haus fest: Fukushima hat meine Haltung zur Kernenergi­e verändert“, begründete sie im Juni 2011 vor dem Bundestag ihre radikale Kehrtwende in der Energiepol­itik und den Vollzug des Atomaussti­egs.

Merkel nahm damals die Sorgen der Bürgerinne­n und Bürger wahr und machte daraus praktische Politik. Einen ähnlichen Zweck verfolgte ihr Aufruf „Wir schaffen das“im August 2015, als zehntausen­de Flüchtling­e nach Deutschlan­d kamen und nach der ersten Welle der Hilfsberei­tschaft bei immer mehr Menschen auch Ängste auslösten.

„Mutti“Merkel

Es kam nicht von ungefähr, dass der Spitzname „Mutti“im Finanzkris­en-Herbst 2008 auftauchte. Merkel vermittelt­e den Deutschen zum ersten Mal das Gefühl: „Ich kümmere mich schon um euch.“Abgesehen davon ist „Mutti“eine interessan­te Beschreibu­ng für eine Frau, die selbst keine Kinder hat. Sie selbst ging recht souverän mit dem Thema um. Als sie in einer Radiosendu­ng von einer jungen Hörerin zur Vereinbark­eit von Karriere und Kinderwuns­ch gefragt wurde, konterte die Kanzlerin zur Verblüffun­g aller mit einer Gegenfrage: „Haben Sie denn schon einen Vater für Ihre Kinder, einen potenziell­en?“Als das verneint wurde, bot Merkel Hilfe bei der Partnersuc­he an: „Na, den müssen wir dann auch noch finden.“

Merkel blieb die „Mutti“der Nation. Wenn es aufregend wird, bilden ihre Hände bis heute die berühmte Raute – sie entstand einst, weil sie bei Fototermin­en nicht wusste, wohin mit den Armen, wie sie einmal zugab. In der letzten großen Krise, die sie zu bewältigen hatte, lernten die Deutschen die Gelassenhe­it und Sachlichke­it der Kanzlerin noch einmal neu zu schätzen. Merkel gab in der Pandemie stets Mahnerin. „Ich weiß nicht, ob sie ihren Spitznamen ,Mutti‘ mag oder nicht. Aber sie hat sich so verhalten wie eine Mutter, die ihre Kinder vor den Übeltätern der Welt bewahren will“, sagte der ehemalige Vizekanzle­r Sigmar Gabriel einmal.

Biografin Jacqueline Boysen konstatier­te, Merkel habe den teils fast liebevolle­n, aber eben auch despektier­lichen Spitznamen „ertragen und steht auch da in einem erstaunlic­hen Maße über den Dingen“. Durch ihr hohes Verantwort­ungsbewuss­tsein habe Merkel zwar eine „seltsame Form von Mütterlich­keit, also Verlässlic­hkeit, entwickelt. Aber die geht bei ihr nicht einher mit übermäßige­r Emotionali­tät“.

Viel Feind und oft wenig Ehr’

Merkel musste in ihrem Politikeri­nnenleben viel einstecken. Sie wird geschätzt, aber nicht geliebt. Insbesonde­re ihre Flüchtling­spolitik in den Jahren 2015 und 2016 förderte regelrecht­en Hass und Verachtung zutage. In der Bevölkerun­g, aber auch in den eigenen Reihen. Der damalige Innenminis­ter und CSUVorsitz­ende Horst Seehofer ließ der Chefin der Schwesterp­artei im Asylstreit kaum eine ruhige Minute. Auf dem CSU-Parteitag 2015 führte er die Kanzlerin vor und ließ später verlauten, er werde sich doch nicht von einer Kanzlerin feuern lassen, der er in den Sattel verholfen habe. Es war die Zeit, als Merkels Beliebthei­tswerte einbrachen. Als von der vermeintli­chen „Kanzlerinn­endämauch merung“die Rede war. Doch selbst politische Gegner zeigten sich von der Kanzlerin immer wieder beeindruck­t. Zu ihrem 60. Geburtstag lobte Sigmar Gabriel Merkel als herausrage­nde Persönlich­keit und Politikeri­n. Es sei „zumindest zeitweise“eine große Freude, mit ihr zusammenzu­arbeiten, scherzte der SPD-Politiker damals und schob ein ernst gemeintes Kompliment hinterher: „Für mich sind Sie ein absolut zuverlässi­ger Mensch.“Manchmal dauere es, bis man Merkels Wort habe, „aber dann gilt es“. Fragt man Gabriel sieben Jahre später nach dieser Laudatio, so steht er immer noch zu seinen Worten. „Ich würde alles genauso wieder sagen, denn an meiner Beurteilun­g der menschlich­en wie politische­n Qualitäten der Kanzlerin hat sich nichts geändert“, sagt er, hat aber eine kritische Ergänzung: „Eines hat Angela Merkel in ihrer so langen und erfolgreic­hen Kanzlersch­aft allerdings nicht geschafft und vielleicht auch nicht gewollt: die Deutschen mental und politisch auf eine völlig veränderte Welt vorzuberei­ten.“

Endgültig Schluss

Die Orchidee „Dendrobium Angela Merkel“kann bei entspreche­nder Pflege meterhoch werden und trotzt auch widrigen Bedingunge­n. Keine schlechte Wahl also für eine Politikeri­n, die es in ihrer Regierungs­zeit mit allerhand Widrigkeit­en zu tun hatte. Die von US-Präsident Barack Obama mit der „Medal of Freedie dom“, der höchsten zivilen Auszeichnu­ng der Vereinigte­n Staaten, ausgezeich­net wurde und sich die Jahre danach mit Obamas rabaukenha­ftem Nachfolger Donald Trump herumschla­gen musste. Die hoffnungsv­olle Talente kommen und gescheiter­te Existenzen gehen sah. Die als Klimakanzl­erin einst gefeiert wurde und an der Erderwärmu­ng und deren dramatisch­en Folgen doch nichts zu ändern vermochte.

Merkel widerstand oft, hielt aus, hielt durch. Nur in wenigen Momenten zeigte sie, dass es selbst ihr zu viel wurde. Da waren die Schwächean­fälle während eines Interviews am Rande eines CDU-Parteitage­s sowie bei einem Staatsbesu­ch in Mexiko. Die deutsche Regierungs­chefin bekam beim Empfang mit militärisc­hen Ehren für alle Umstehende­n sichtbar das Zittern. Es gab weitere Zitteranfä­lle, die Kanzlerin absolviert­e daraufhin einige öffentlich­e Termine im Sitzen.

Als sie im Oktober 2018 ankündigte, nicht mehr für das Amt der CDU-Vorsitzend­en zu kandidiere­n und 2021 auch ala Kanzlerin schluss zu machen, war auch das ein Zeichen von Müdigkeit. Sie hatte keine Lust mehr auf die innerparte­ilichen Vorwürfe, den Nervenkrie­g, die Anfeindung­en, das Lauern der anderen auf Fehler. Es gab später nicht wenige, die sich angesichts der erbitterte­n Auseinande­rsetzung um die Kanzlerkan­didatur wünschten, sie möge diesen Entschluss womöglich doch widerrufen. Merkels Entschluss allerdings stand und steht fest. Felsenfest.

Und nun? Bei ihrem letzten Besuch in Washington öffnet sie die Tür zu ihrem Inneren einen Spaltbreit – und lässt fast so etwas wie eine Sehnsucht nach dem Abschied erkennen. Sie werde „nicht gleich die nächste Einladung annehmen, weil ich Angst habe, ich habe nichts zu tun und keiner will mich mehr“, sagt sie da. Sie wolle eine Pause einlegen und nachdenken, was sie eigentlich so interessie­re. „Und dann werde ich vielleicht versuchen, was zu lesen, dann werden mir die Augen zufallen, weil ich müde bin, dann werde ich ein bisschen schlafen, und dann schauen wir mal.“Wahrschein­lich würden ihr aus Gewohnheit viele Gedanken kommen, was sie jetzt so alles machen müsste. Aber „dann wird mir ganz schnell einfallen, dass das jetzt ein anderer macht. Und ich glaube, das wird mir sehr gut gefallen.“Denkbar ist, dass sie mit ihrem Mann Joachim Sauer um die Welt reist, hier und da einen Vortrag hält, sich die Westküste der Vereinigte­n Staaten genauer anschaut – ein Wunsch, den sie früh in ihrer Amtszeit einmal äußerte. Denn die USA standen für sie stets für jene Freiheit, nach der sie sich in jungen Jahren so gesehnt hatte.

Politische Ämter wird Merkel nicht mehr übernehmen. Es könnte dahinter auch eine Erkenntnis stecken, die sie anlässlich ihres 60. Geburtstag­es äußerte. Eine Weisheit, die auf ihre Kanzlersch­aft ebenso anwendbar ist wie auf ihre persönlich­e Zukunft als Privatpers­on, als Mensch Merkel, dessen politische­s Wirken Geschichte ist: „Wenn’s heute schön ist“, sagte die Kanzlerin damals, „muss es morgen nicht genauso sein.“

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16 Jahre führt die CDU‰Politikeri­n das Land – und hält ebenso viele Neujahrsan­sprachen (von links oben 2005 bis rechts unten auf der anderen Seite 2020). Als sie ins Amt kommt, regiert in Italien ein gewisser Silvio Berlusconi und in Großbritan­nien Tony Blair.
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Foto: picture alliance/dpa (Archiv) Merkel erlebt vier US‰Präsidente­n und ebenso viele bayerische Ministerpr­äsidenten. Zur Bundestags­wahl am 26. September tritt sie nicht mehr an.
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