Generation Merkel
Viele junge Menschen in Deutschland kennen nur eine Bundeskanzlerin. Wie unsere Autorin sind sie mit Angela Merkel aufgewachsen und erwachsen geworden. Was hat sie geprägt? Und wie werden sie selbst die Zeit prägen, die nun anbricht?
Ich weiß nicht mehr, wann Angela Merkel in mein Leben getreten ist. Irgendwann war sie da, in den Nachrichten, in den Gesprächen meiner Eltern. Eine unauffällige Frau, ernsthaft und ein wenig spröde. Dass sie einmal Bundeskanzlerin werden würde, konnte ich mir damals kaum vorstellen. Ich war 19, die Wahl, die sie schließlich ins Amt brachte, war die erste Bundestagswahl, bei der ich abstimmen durfte. Während Merkel zur Kanzlerin wurde, ging ich studieren, zog ins Ausland und wieder zurück. Ich machte Praktika und fand meinen ersten richtigen Job. In meinem Leben hat sich in dieser Zeit fast alles verändert, doch die Frau im Kanzleramt blieb stets dieselbe.
Wenn Angela Merkel nach der nächsten Bundestagswahl abtritt, dann wird sie 16 Jahre lang Bundeskanzlerin gewesen sein. Eine kleine Ewigkeit, für sie, vor allem aber für mich und meine Altersgenossen. Wir sind während dieser langen 16 Jahre aufgewachsen und erwachsen geworden. Viele Jüngere kennen keine andere Bundeskanzlerin als Merkel. Was verbindet diese Menschen, die heute ungefähr zwischen 15 und 35 Jahre alt sind, diese „Generation Merkel“, die auch meine ist? Welche Ereignisse haben sie geprägt? Und wie werden sie die Zeit prägen, die nun anbricht?
Antworten auf diese Fragen findet man bei Klaus Hurrelmann. Der 77 Jahre alte Professor ist der wohl bekannteste Jugendforscher des Landes, seit 20 Jahren ist er Autor der bekannten Shell-Jugendstudie. Was also, Herr Hurrelmann, bewegt jungen Menschen, die in der Ära Merkel aufgewachsen sind?
Der Forscher muss etwas ausholen, um diese Frage zu beantworten. In der Soziologie, sagt er, spreche man dann von einer Generation, wenn Menschen einer Altersgruppe in ihren ersten Jahrzehnten ähnliche Erfahrungen machen, ähnlichen Einflüssen ausgesetzt sind. Die immer gleiche Frau im Kanzleramt, der immer gleiche Politikstil – das ist so ein Einfluss, sagt Hurrelmann. Natürlich prägt eine Kanzlerin nicht jede und jeden, aber sie setzt den Ton, gibt die Stimmung vor – und beeinflusst damit vor allem die Jungen und Jüngsten, die das Land in keiner anderen Verfassung kennen.
Die Kinder der Ära Merkel verbinde also vor allem ein ähnlicher Blick darauf, wie Politik gemacht werde. „Die jungen Menschen sind damit groß geworden, dass ihnen ein bestimmter Politikstil sehr selbstverständlich erscheint“, sagt der Wissenschaftler. Sie würden hauptsächlich das „System Merkel“kennen: ein ruhiges, moderierendes Vorgehen, den Hang zum Abwarten und zu überlegten Entscheidungen.
Man kann Angela Merkels Amtszeit also als eine Art Klammer bezeichnen, die meine jungen Jahre und die meiner Altersgenossen zusammenhält. Daneben, erklärt mir Jugendforscher Hurrelmann, gibt es aber noch viele andere Einflüsse, die eine Generation prägen: die Technik, die Wirtschaft, die Gesellschaft. In den 16 Jahren, in denen Merkel regierte, hat sich die Welt so stark verändert, dass die Erfahrungen meiner Altersgruppe völlig anders als die von Menschen unter 20. Anders gesagt: Durch die „Generation Merkel“geht ein Riss, über den noch zu reden sein wird.
Die Soziologie teilt junge Menschen – grob gesprochen – in jene ein, die zwischen dem Beginn der Achtzigerjahre und Mitte bis Ende der Neunzigerjahre geboren wurden, genannt die Generation Y, und jene, die rund um die Jahrtausendwende und danach zur Welt kamen, die Generation Z. Wer wie ich Teil der Generation Y ist, hat den 11. September bewusst erlebt, vielleicht sogar den Mauerfall. Ich gehöre zur letzten Altersgruppe, die noch ein Leben ohne Internet und Smartphone kennengelernt hat. Als wir junge Erwachsene waren, wurde Barack Obama zum US-Präsidenten gewählt, die Finanzkrise vernichtete zahllose Arbeitsplätze – auch in der unmittelbaren Umgebung. Eine Redaktion, in der ich ein Praktikum machte, wurde kurz darauf aufgelöst. Von Freunden meiner Eltern hörte ich in dieser Zeit zum ersten Mal den Begriff „Kurzarbeit“.
Das Urteil der Wissenschaft über uns ist wenig schmeichelhaft: In der Shell-Jugendstudie aus dem Jahr 2002 prägte Forscher Hurrelmann den Begriff der „Egotaktiker“. Wir seien darauf aus, einen guten Abschluss zu machen, die eigenen Chancen zu verbessern. Im historischen Vergleich, erklärt Hurrelmann, sei die Generation Y eine aufdie fällig unpolitische Altersgruppe. „Streber, keine Rebellen“, wie er es formuliert.
Für den Experten ist das nicht überraschend: „Wenn eine junge Generation zittern muss, dass sie in einen Beruf kommt, dann konzentriert sie ihre ganze Energie auf eine gute schulische und berufliche Ausbildung.“Der Kopf sei nicht frei, um an das Gemeinwesen und das Gemeinwohl zu denken.
Hat er damit recht? Sicher trifft sein Urteil nicht auf jede und jeden zu, aber darum geht es Hurrelmann auch nicht. Mitglieder einer Generation seien nicht alle gleich, sagt er, aber durch eine ähnliche Prägung würden sie ähnliche Wege gehen und ähnliche Entscheidungen fällen. Und wenn ich darüber nachdenke, dann erkenne auch ich diese Gemeinsamkeiten: Nur wenige meiner Freunde waren in ihrer Jugend auf Demonstrationen, Politik war fast nie ein Thema zwischen uns, ist es in vielen Runden noch immer nicht.
Mit der Zeit, erklärt mir Hurrelmann, verschiebt sich allerdings etwas. Wer nach der Jahrtausendwende geboren wurde, wächst unter anderen Bedingungen auf. Auch die Mitglieder der Generation Z erleben prägende Ereignisse, die Terrorangst, die Flüchtlingskrise, den Kampf gegen den Klimawandel. Aber trotz aller Krisen werden viele von ihnen in einer Umgebung groß, die Hurrelmann als „heile Welt“besind zeichnet. Die Wirtschaft boomt, viele Familien sind abgesichert und die Aussichten auf eine Ausbildung und einen Job oft hervorragend.
Wer so aufwachse, müsse sich weniger um sich selbst kümmern, sagt der Forscher. Der Blick sei frei für das Wesentliche. Die Mitglieder der Generation Z engagieren sich deutlich mehr als ihre Vorgänger, tragen ihre Wünsche und Forderungen ins Internet und auf die Straße. Hurrelmann findet diese Altersgruppe mindestens außergewöhnlich. „Dass von einer jungen Generation eigene Akzente kommen, das haben wir lange nicht mehr gehabt.“
Hier zeigt sich der Riss, der durch die „Generation Merkel“geht: Die älteren, eher Unpolitischen auf der einen Seite, die jüngeren Engagierten auf der anderen. Oder, um es mit Hurrelmanns plakativer Zuschreibung zu sagen: Hier die Streber, dort die Rebellen.
Beide sind auf ihre Art Kinder der Ära Merkel. Wir Älteren, weil viele von uns zufrieden waren mit einem Rückzug ins Private. Einem neuen Biedermeier, wie die Amtszeit Merkels oft genannt wird. Meine Generation habe „eine Regierung erlebt, die ihr das politische Denken und die politische Mitarbeit abnimmt“, erläutert Hurrelmann. Die Kanzlerin habe stets vermittelt, sie regele das schon. Das sei meinen Altersgenossen, den „Egotaktikern“, nur entgegengekommen.
Tatsächlich hat Angela Merkel auch mir immer eine gewisse Sicherheit gegeben, ein Es-wird-schon-alles-gut-Gefühl. Da war ihr Versprechen in der Finanzkrise, „dass alle
Einlagen sicher sind“. Und natürlich der Satz, der mit ihr in die Geschichte eingehen wird: „Wir schaffen das.“Für mich war es mit Merkel ein wenig wie mit dem Personal an Bord eines Flugzeugs, das durch Turbulenzen fliegt: So lange diejenigen, die davon Ahnung haben, keine Panik verbreiten, wird schon alles gut ausgehen.
Genau wie meine Altersgruppe sind aber auch die Jüngeren Geschöpfe ihrer Zeit. Während sich meine Generation im Privaten eingerichtet hat, protestieren sie umso lustvoller. Der Entpolitisierung setzen sie ihr Engagement mit einer solchen Leidenschaft entgegen, als müssten sie aufholen, was wir Älteren versäumt haben. Ihr Gegner ist nicht Angela Merkel selbst, aber der Politikstil der Kanzlerin, das Wirregeln-das-schon, mit dem sie aufgewachsen sind.
Wie werden sie also die Zeit prägen, die nun anbricht? Klaus Hurrelmann geht davon aus, dass besonders die sehr jungen Menschen der Politik ihren Stempel aufdrücken werden. Viele von ihnen seien durch das umweltpolitische Engagement geprägt, hätten starke ethische Maßstäbe. „Das werden sie von sich aus in die politische Auseinandersetzung ganz massiv hineintragen“, prognostiziert der Wissenschaftler. Überhaupt traut Hurrelmann den jüngsten Mitgliedern der „Generation Merkel“viel zu. Er ist überzeugt: Der Klimaschutz ist für die junge Generation erst der Anfang. „Sie trainieren sich an diesem großen politischen Thema – dann nehmen sie sich auch alles andere vor.“