Deutschland, eine Baustelle
Angela Merkel löscht als Feuerwehrfrau einen Krisenherd nach dem anderen. Mut und Energie für große Reformen bleiben kaum. Auf die nächste Regierung wartet viel Arbeit
Eine Kanzlerschaft ist wie eine Großbaustelle. Manches Gewerk wird provisorisch zusammengezimmert, anderes mit großem Aufwand neu gebaut. Und einige Projekte schiebt man ewig vor sich her. Ein Blick auf die Baustelle Deutschland:
Europa
Angela Merkel braucht weniger Schlaf als andere. Im wahrsten Sinne des Wortes unermüdlich, bringt sie ihre Verhandlungspartner in zahllosen durchgemachten Brüsseler Nächten zur Verzweiflung. Frei nach dem legendären englischen Fußballer Gary Lineker: Ein EUGipfel ist ein Treffen von 27 Regierungschefs und am Ende gewinnen immer die Deutschen. Tatsächlich setzt sich die Kanzlerin meistens durch – oder verhindert zumindest das Scheitern. Doch nie lässt sie sich zu triumphierenden Gesten hinreißen. Stattdessen taucht sie nach einem dramatischen Gipfel schon mal an der Pommes-Bude im EuropaViertel auf. Wie ihr Entdecker Helmut Kohl schafft es Angela Merkel, dass Deutschland in ihrer Ära als Partner gilt, auf den man sich verlassen kann. Doch die „Führerin der freien Welt“, zu der sie in den USA während der irren Trump-Jahre stilisiert wird, ist sie nie.
Die Bundeskanzlerin moderiert Europa mehr, als es zu führen. Ist das eine Schwäche oder gerade ihre größte Stärke? Merkel hat eine Krise nach der anderen abgearbeitet und hinterlässt dennoch eine zerrissene EU. Die Briten konnte auch sie nicht halten. In Frankreich droht eine rechtspopulistische Präsidentin. Und in Osteuropa sind reihenweise Regierungschefs erstarkt, die in der Gemeinschaft allenfalls noch eine Art Selbstbedienungsladen sehen, sich aber nicht an demokratische Grundsätze gebunden fühlen. Merkel versucht erst spät, Leute wie Viktor Orbán in die Schranken zu Womöglich zu spät. In der Euro-Krise hält sie den Laden – vor allem im Interesse Deutschlands – noch irgendwie zusammen, in der Flüchtlingspolitik gelingt ihr das nicht mehr. Mit ihrem Alleingang setzt sie zwar ein starkes Signal für westliche Werte, brüskiert aber andere Regierungschefs und steht schließlich ziemlich alleine da.
In der Corona-Pandemie nimmt Merkel das Heft noch einmal in die Hand und schnürt mit Emmanuel Macron ein gigantisches Hilfspaket. Doch als der französische Präsident neue Visionen für Europa entwickeln will, lässt die Kanzlerin ihn hängen. Und das beschreibt vielleicht am besten ihre Bilanz: Angela Merkel hat die EU im turbulenten Hier und Jetzt einigermaßen stabil gehalten. Stark für die Zukunft hat sie Europa nicht gemacht.
Klima
Es ist eines der Bilder, die sich von dieser Kanzlerschaft ins Gedächtnis eingebrannt haben. Merkel ist noch keine zwei Jahre im Amt, als sie nach Grönland reist. Im dicken roten Anorak lässt sie sich vor schmelzenden Gletschern fotografieren. Der Begriff Klimakanzlerin wird geboren. Als Umweltministerin hatte Merkel Ende der 90er Jahre einen bemerkenswerten, einen eindringlichen Auftritt in einer Talkshow. Viele Menschen hätten zwar erkannt, dass mit der Umwelt vieles nicht in Ordnung sei, warnte die junge Politikerin, aber sie wollten jetzt noch keinen Preis dafür bezahlen. Sie will diese Menschen überzeugen: „Passt auf, wenn ihr es heute nicht macht, wird es für eure Kinder und Enkel doppelt und dreifach teurer.“Nun ist sie selbst am Ruder und sendet eine klare Botschaft: Umweltschutz ist jetzt Chefsache. Doch wird Deutschland wirklich ein Vorbild in der Klimapolitik?
Jedenfalls gibt Merkel im Jahr ihrer Grönland-Reise ein ambitioniertes Ziel aus: 40 Prozent weniger Treibhausgase bis 2020. Doch schon bald kommt es zu einem Rendezvous mit der Wirklichkeit. Die mächtige Autoindustrie rebelliert, Verbraucher und Unternehmen finden Strom zu teuer, der Kohleausstieg wird verschleppt. Das Klimaziel will man jetzt erst 2030 erreichen. Merkels Ehrgeiz erlahmt. Als die EU strengere Abgasnormen durchsetzen will, ist es ausgerechnet die deutsche Kanzlerin, die auf die Bremse tritt. Auf der Zielgeraden ihrer Amtszeit wird die einstige Antreiberin selbst angetrieben. Von wütenden Kindern und Jugendlichen, die freitags die Schule schwänzen, um mehr Engagement im Kampf gegen den Klimawandel einzufordern. Aber auch vom Bundesverfassungsgericht, das die Regierung zu Nachbesserungen zwingt.
Ein Vierteljahrhundert nach ihrem Talkshow-Appell sagt Merkel zum Kampf gegen den Klimawandel: „Was wir bisher tun, reicht schlichtweg nicht aus.“Das 40-Proweisen. zent-Ziel wurde nur deshalb erreicht, weil die Pandemie die Industrie im vergangenen Jahr über Wochen nahezu stillgelegt hat. Und die Energiewende – weg von Atomund Kohlestrom – scheint schon lange keine Chefsache mehr zu sein.
Wirtschaft
Jetzt, da sich die Ära Merkel dem Ende entgegenneigt, gerät leicht in Vergessenheit, dass es diese Ära beinahe gar nicht gegeben hätte. Nur mit hauchdünnem Vorsprung landet die damalige Herausforderin 2005 vor Amtsinhaber Gerhard Schröder. Merkel war mit einem radikal wirtschaftsfreundlichen Programm angetreten – und wäre damit fast bei den Wählerinnen und Wählern durchgefallen. Aus dieser politischen Nahtod-Erfahrung zieht die CDU-Politikerin den Schluss, den Leuten bloß nicht zu viel an Härten zuzumuten. Es sollte – mit Ausnahme der Corona- und Flüchtlingspolitik – die Richtschnur ihrer Regierungskunst werden. Besonders zeigt sich das im Bereich der Wirtschaft.
Die Kanzlerin hat Glück. Die Reformen ihres Vorgängers wirken und pünktlich zum Regierungswechsel setzt der Aufschwung ein. Doch sie macht auch etwas aus dieser Steilvorlage: Deutschland mausert sich vom kranken Mann zum wirtschaftlichen Muskelprotz Europas. In der Ära Merkel halbiert sich die Arbeitslosenquote. Die Finanzkrise bleibt nur eine Bruchstelle in den goldenen Jahren, während Südeuropa in eine anhaltende Depression rutscht, die durch das Beharren der Bundesregierung auf eine harte Sparpolitik noch verschärft wird.
Für die Unternehmen tut die Kanzlerin wenig. Stattdessen erfüllt sie der SPD einen Herzenswunsch nach dem anderen: Mindestlohn, Rente mit 63, Grundrente. Finanzminister Wolfgang Schäuble saniert den Staatshaushalt, Deutschland erlebt ein Jahrzehnt des Aufschwungs, doch die Unternehmer müssen sich damit begnügen, dass die Steuern zumindest nicht angehoben wurden. Wirtschaftspolitiker in CDU und CSU frustriert das zutiefst. Der Wiederaufstieg des längst abgemeldeten Friedrich Merz ist Ausdruck dieser Stimmung. Die alternde Gesellschaft wird die Sozialausgaben in den kommenden Jahren immens steigen lassen. Andere Industrieländer senken die Steuern, um sich damit attraktiver für Unternehmen zu machen. Deutschland genießt die guten Jahre – und hofft einfach mal, dass es so weitergeht.
Modernisierung
Die Corona-Pandemie zeigt, dass auf Deutschlands Verwaltungen eine dicke Schicht Staub liegt. Wacker, aber im Schneckentempo kämpfen die Gesundheitsämter mit museumsreifen Faxgeräten gegen die Verbreitung des Virus. Eine elektronische Plattform zum Datenaustausch ist nicht einsatzfähig, obwohl sie vor zehn Jahren beschlossen wurde. Die Schulen stecken im sprichwörtlichen Kreidezeitalter, Corona trifft sie völlig unvorbereitet. Das Homeschooling wird zu einer Operation am offenen Herzen. Schnelles Internet, die Ausstattung mit Laptops, Fortbildung für Lehrer im digitalen Unterricht – überall Fehlanzeige.
Ja, Bildungspolitik und Kampf gegen die Pandemie sind Ländersache. Aber es ist schwer zu erklären, dass eine Kanzlerin, die fasziniert ist von der Geschwindigkeit der Modernisierung in China, zu Hause so wenig gegen die Lethargie unternimmt. Regelmäßig sind die Regierungschefs und Präsidenten der baltischen Staaten zu Gast, um dem staunenden Publikum zu erklären, dass der Bürger dort einen neuen Ausweis im Internet beantragen kann und nicht persönlich auf dem Amt vorsprechen muss. In Deutschland bleibt es beim Staunen. Dabei sollte das alles auch hier möglich sein, aber das Papier hält sich hartnäckig in den Amtsstuben. Große Digitalprojekte des Staates scheitern oder geraten schwer im Verzug.
Zu einer Verwaltung, die im althergebrachten Takt arbeitet, kommen anspruchsvolle Auflagen, die den Wandel bremsen. Ein neues Windrad zu bauen, dauert sechs bis sieben Jahre, eine Bahnstrecke gar zwei Jahrzehnte. Deutschland prüft, bindet ein und moderiert sich in einen Stillstand. Mit Elon Musk muss erst ein Unternehmer aus Amerika kommen, um das scheinbar Unwagbare zu wagen. Er will seine neue Tesla-Fabrik südlich von Berlin