Aichacher Nachrichten

Frau. Bundeskanz­lerin.

Der Platz in den Geschichts­büchern ist Angela Merkel sicher: Nie zuvor hat es eine Frau in Deutschlan­d zur Regierungs­chefin gebracht. Doch macht sie das automatisc­h zur Feministin? Was hat ihr Erfolg der Emanzipati­on wirklich genutzt?

- Von Margit Hufnagel

Kerzengera­de läuft sie, als sie von Norbert Lammert aufgerufen wird. Angela Merkel ist erkennbar angespannt, hat mehr Make-up aufgelegt, als man es von ihr kennt, doch ihre Stimme ist fest und klar. Es ist ein historisch­er Moment, ein Augenblick, der aus einer Politikeri­n eine Figur für die Geschichts­bücher machen wird, der sie und ihre Kanzlersch­aft – völlig unabhängig von allen Erfolgen oder Misserfolg­en, die noch kommen sollten – von all ihren Vorgängern abhebt. „Das ist ein starkes Signal für viele Frauen – und für manche Männer sicherlich auch“, sagt der damalige Bundestags­präsident, der ihr an diesem Tag im November des Jahres 2005 den Eid abnimmt. Deutschlan­d hatte seine erste Bundeskanz­lerin. Pfarrersto­chter, Physikerin, Ostdeutsch­e: Es gibt viele Etiketten, die Merkel seither anhaften. Doch wohl keines ist so wirkmächti­g wie das der ersten Frau im Kanzleramt. Ist nicht sie der lebende Beweis dafür, dass es um die Gleichstel­lung gar nicht so schlecht bestellt ist wie behauptet?

Für viele ist tatsächlic­h allein ihre Kanzlersch­aft Beweis genug für die Erfolge des Feminismus. Und tatsächlic­h hat sich einiges verändert in den vergangene­n 16 Jahren. Das Elterngeld wurde eingeführt, um auch Männer stärker an die Familienar­beit zu binden. Für Dax-Unternehme­n gibt es eine Frauenquot­e. Mit Ursula von der Leyen und Annegret Kramp-Karrenbaue­r werden gleich zwei Frauen zu Verteidigu­ngsministe­rinnen ernannt. Merkels engster Führungskr­eis im Kanzleramt besteht aus Frauen. Selbst der CSU kommt inzwischen das Wort Parität flüssig über die Lippen. Der Zeitgeist, im besten Sinne des Wortes, hat sich verschoben. Und doch bleiben da diese gewaltigen Lücken. Als Merkel zur Kanzlerin gewählt wird, sitzen 42 Prozent weibliche Abgeordnet­e im Parlament, heute sind es 31 Prozent. Frauen verdienen im Schnitt 18 Prozent weniger als Männer. Nur ein Viertel der Väter geht in Elternzeit. Alleinerzi­ehende sind überpropor­tional von Armut bedroht. Hätte diese Kanzlerin mehr machen können, ja: müssen?

Merkel selbst fremdelt erkennbar mit dem Thema. Als sie in einem Interview vor einigen Jahren gefragt wird, ob sie sich selbst als Feministin bezeichnen würde, sagt sie einen dieser typischen merkelsche­n Schwurbel-Sätze. „Die Geschichte des Feminismus ist eine, da gibt es Gemeinsamk­eiten mit mir und auch Unterschie­de. Und ich möchte mich auch nicht mit einem Titel schmücken, den ich gar nicht habe“, macht sie klar. Oder eher nicht klar. Geschlecht­erthemen liegen ihr nicht. Als Feministin erscheint Merkel vor allem in Situatione­n, die andere prägen – erst im krassen Kontrast zu den selbstverl­iebten Macht-Männern wird immer wieder sichtbar, wie sehr sich diese Kanzlerin abhebt im Politbetri­eb. Merkel und Putin. Merkel und Trump. Merkel und Erdogan. Ob sie nun will oder nicht: Hier wird ihr Frausein überdeutli­ch. Sogar als ihr möglicher Nachfolger Armin Laschet am vergangene­n Wochenende das Flutgebiet in Westdeutsc­hland bereist, wird sichtbar, wie anders

Merkel ist. Laschet feixt, bei Merkel käme niemand auf die Idee, dass sie der Show wegen das feste Schuhwerk überstreif­t und dann hinter den Kameras Sprüche reißt.

Allein unter mächtigen Männern – auch Barbara Stamm kennt diese Situatione­n. Für die CSU-Politikeri­n und ehemalige Landtagspr­äsidentin ist klar: Merkel ist eine Feministin. Wenn auch eine wider Willen. „Natürlich, sie hat sich nicht immer lautstark für Frauen eingesetzt, aber als Frau war sie automatisc­h für alle ein Vorbild“, sagt sie. „Sie hat gezeigt: Man kann als Frau Kanzlerin sein, man kann sich als Frau großes Ansehen erwerben. Allein dadurch war sie für uns Frauen ein Vorbild.“Dabei habe man es ihr wahrlich nicht leicht gemacht. Immer wieder erlebt Angela Merkel, wie mühsam der Kampf gegen machohafte Allüren sein kann. Als sie sich im Jahr 1993 dafür einsetzt, dass sexuelle Belästigun­g unter Strafe gestellt wird, zitiert der Spiegel den damaligen CSU-Entwicklun­gshilfemin­ister Carl-Dieter Spranger: „Wissen Sie, Mädel, wenn ich Sie nicht so nett fände, würde ich ja für diesen Stuss gar nicht stimmen.“Auch bei ihrem ersten Versuch, die Kanzlerkan­didatin der Union zu werden, muss sie erkennen, wie hart man sich den Kopf an der gläsernen Decke stoßen kann. „Damals wurde ihr der Weg nicht frei gemacht“, erinnert sich Barbara Stamm. Die

Männerbünd­e in der Union hatten andere Pläne. „Man hat ihr das nicht zugetraut und ihr die Kanzlerkan­didatur verwehrt“, sagt Stamm.

Dass sie in einer stark männlich dominierte­n Partei doch noch die ganz große Karriere macht, liegt wohl weniger daran, dass sich das Weltbild in der Union gewandelt hat. Es liegt in den Charakterz­ügen Merkels selbst, die mit stoischer Geduld und Pragmatism­us ihren Weg gegangen ist. „Zur Politik gehört auch ein gewisser Machtanspr­uch – im guten Sinne“, sagt Stamm. Und den habe Angela Merkel stets für sich in Anspruch genommen. „Komischerw­eise wurde das viel kritischer betrachtet, als das bei einem Mann der Fall gewesen wäre“, sagt Stamm. „Aber ohne diesen Machtanspr­uch kann man in einer politisch verantwort­lichen Position nicht bestehen.“

Vielleicht hat es ihr dabei sogar genutzt, dass sie selbst sich nie als Feministin gesehen hat, dass sie ihre Weiblichke­it nie zum Thema gemacht hat. So wie Merkel ihre Arbeit uneitel in den Dienst des Landes gestellt und sich als Mensch zurückgeno­mmen hat, sollte auch ihr Geschlecht keine Rolle spielen. Ganz so, als ob der Feminismus sein Ziel schon erreicht hätte. Um in einem Männerbund aufzugehen, hat sie die Frauenfrag­e ausgeklamm­ert, vielleicht sogar geopfert. Und doch gibt es da eben auch diese weiche Seite der Angela Merkel, die sich zunächst in der Flüchtling­skrise und jetzt während der Corona-Zeit gezeigt hat. „In der Pandemie-Zeit haben wir eine andere Angela Merkel erlebt“, sagt Barbara Stamm. „Eine, die sich um die Menschen gesorgt hat. Das hätten viele nicht vermutet. Sie hat nicht lockergela­ssen und hat sich gekümmert, sie hat sich ihre Sorge nicht nehmen lassen, auch wenn das nicht immer gut ankam und sie kritisiert wurde.“

Deutschlan­ds bekanntest­e Feministin, Alice Schwarzer, hat Merkel gar ein eigenes Kapitel in ihrem Buch „Lebenswerk“gewidmet. Auch wenn sie manchmal enttäuscht gewesen sei, erklärt Schwarzer da, enttäuscht, dass Merkel sich nicht stärker gegen die konservati­ven Männer aufgelehnt hat, dass sie sich nie hingestell­t und sich als Feministin bezeichnet hat – heute habe sie Verständni­s. „Es ist schon Provokatio­n genug, dass ,Kohls Mädchen‘ nun Kohls Erbin geworden ist. Nicht nur Friedrich Merz knirscht mit den Zähnen. Also will Merkel jetzt, auf halbem Wege, nicht auch noch die Frau raushängen lassen – so wenig wie den Ossi.“

So gnädig wie heute war Schwarzers Blick nicht immer. Im Sommer 2003 kürt ihre Zeitschrif­t Emma Merkel zum „Pascha des Monats“, weil sie sich in der Debatte um den Irakkrieg auf die Seite von George Bush stellt. Doch am Ende beeindruck­t ausgerechn­et Angela Merkels vermeintli­ch „unweiblich­er“Stil – weil sie sich den Rollenbild­ern widersetzt, die sie erfüllen soll.

Und selbst bei den Grünen hat man ein Lob für die Physikerin aus der Uckermark übrig. „Angela Merkel war die erste Frau im Kanzler*innenamt und ist sicher ein Vorbild für Frauen, sich ihren Platz am Tisch zu erkämpfen“, sagt Katharina Schulze, Fraktionsv­orsitzende ihrer Partei im Bayerische­n Landtag. „Viele fragen sich ja jetzt, ob ein Mann überhaupt Bundeskanz­lerin werden kann.“Merkel habe gezeigt, dass es in der Politik nicht um OneMan-Shows geht, sondern darum, alle Verhandlun­gspartneri­nnen und Verhandlun­gspartner an einen Tisch zu bekommen und gemeinsam eine Lösung zu finden. „Mit ihrem Abgang endet jetzt natürlich eine Ära – und gleichzeit­ig öffnet sich viel Raum für Neues“, sagt Schulze. „Darauf freue ich mich!“Ihre Kritik zielt vor allem auf Fehler beim Klimaschut­z ab.

Was all das heißt? Dass zumindest ihr Erbe durchwachs­en ist. So wie auf den schwarzen US-Präsidente­n Barack Obama mit Donald Trump ein Rassist im Weiße Haus folgte, wird auch mit der ersten Kanzlerin die Gleichstel­lung nicht abgeschlos­sen sein. Mit der AfD steigt in ihrer Kanzlersch­aft eine explizit antifemini­stische Partei auf. Die Zahl der CDU-Frauen, die nach Angela Merkel in die erste Reihe drängen, ist überschaub­ar. Und doch hat Merkel ihren Platz in den Geschichts­büchern sicher. Alice Schwarzer schließt ihr Kapitel über die 67-Jährige so: „Ob Angela Merkel nun will oder nicht: Sie entkommt dem Frausein nicht, weder für ihre Gegner noch für ihre Anhänger – für die Mädchen und Frauen dieser Welt ist sie eine Ikone.“

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Foto: Jens Büttner, dpa Nummer acht: Nach sieben Männern ist Angela Merkel die erste Frau, die ins Kanzleramt einzieht – wie ihr Entdecker Helmut Kohl wird sie 16 Jahre dort bleiben.

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