Das liberale Dilemma
Ein Bündnis mit der SPD und den Grünen? Eigentlich will FDP-Chef Christian Lindner das nicht. Am Ende aber könnte er genau dazu gezwungen sein
Kurz vor der Wahl gibt sich FDPChef Christian Lindner allzu selbstbewusst. Als stünde schon fest, dass der Weg ins Kanzleramt nur über ihn führt, den Königsmacher. Als wären die Zeiten zurück, in denen die Liberalen das Zünglein an der Waage spielten, das den Ausschlag gab, ob Union oder SPD den Kanzler stellen. Nur mit dem Unterschied, dass die Volksparteien heute so weit geschrumpft sind, dass jeweils noch die Grünen mit auf der Waagschale liegen. Doch die Optionen von Christian Lindner sind keineswegs so groß, wie er es gern hätte. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass er am Ende genau in dem Bündnis landet, über das er sich heute sehr skeptisch äußert: einer Ampel mit SPD und Grünen.
Lindner kann es sich unmöglich noch einmal leisten, eine Regierungsbeteiligung abzulehnen wie vor vier Jahren, als er das JamaikaProjekt mit Union und Grünen in letzter Minute platzen ließ. Das Argument von damals, lieber nicht zu regieren als schlecht zu regieren, würden die Liberalen nicht einmal Lindner noch mal durchgehen lassen. Zu groß ist die Sehnsucht nach der Macht. Doch die FDP war lange fest überzeugt, dass der Weg an die Bundesregierung am einfachsten im Windschatten von CDU und CSU gelingen würde. Dass die Union und ihr Kandidat Armin Laschet derart heftig schwächeln würden, hat in der FDP niemand vorausgesehen. Nun ist eine heikle Kurskorrektur nötig, eine Kehrtwende in der bisherigen liberalen Wahlkampf-Erzählung, in der ein roter Kanzler nur als wirtschaftsfeindlicher Schurke vorkam.
Ein solcher Schwenk birgt Gefahren, doch unüberwindbar ist die argumentative Hürde keineswegs. Mit einer Regierung nur von Union und FDP war ohnehin nicht zu rechnen. Für ein stabiles Bündnis, ob nun die Union oder die SPD den Kanzler stellt, müssen sich Grüne und FDP so oder so eigene Felder abzäunen, aus denen sich der andere tunlichst rauszuhalten hat. Wie das aussehen könnte? Die Grünen dürften etwa beim Klimaschutz punkten, solange sie der FDP nicht zu viele Verbote zumuten. Und Lindner könnte als Finanzminister versuchen, irgendwie ohne Steuererhöhungen auszukommen.
Dass die FDP der Union ideologisch in fast jeder Hinsicht näher steht als der SPD, ist klar. Doch für die verzweifelt um jede Stimme kämpfende Union ist die erstarkende FDP auch der Hauptkonkurrent im bürgerlichen Lager. Beide Seiten schenken sich nichts mehr, auch keine Zweitstimmen. SPDKanzlerkandidat Olaf Scholz dagegen beschwört bei jeder Gelegenheit die sozial-liberale Tradition.
Sollte die Union am Wahlabend nur zweiter Sieger sein, scheint ein Bündnis unter ihrer Führung kaum vorstellbar. Mutmaßlich würde in der CDU sofort ein heftiger Führungsund Richtungsstreit ausbrechen. Selbst wenn sich die Konservativen schnell sortierten – wäre ein Regierungsauftrag für die SPD klar erkennbar. Lindner bliebe dann gar nichts anderes mehr übrig, als in eine Ampel mit SPD und Grünen einzutreten. Sonst erhielten SPD und Grüne ja ausgerechnet von ihm die Rechtfertigung, die Linkspartei mit ins Boot zu holen.
Rot-Grün-Rot – das wäre für die Geschäftsleute unter den FDPAnhängern der Albtraum. Wirtschaftsfreundliches Gegengewicht, das verhindert, dass zu viel grüne Regulierungswut und rote Umverteilungsromantik in die Gesetzgebung einfließen, gelbes Warnlicht einer Ampel – die FDP wird Gründe finden, dieses Mal lieber im schlechteren Bündnis zu regieren als gar nicht. So hat Lindner zwar beste Chancen, der nächsten Regierung anzugehören. Sein Einfluss darauf, wie sie zusammengesetzt ist, ist aber begrenzt. Er könnte gezwungen sein, einen zum König zu machen, den er gar nicht will.
Für die Union sind die Liberalen jetzt Konkurrenten