Er will der Kanzlermacher werden
Hintergrund Die FDP-Wahlkampfstrategie war lange auf ein Jamaika-Bündnis mit Grünen und Union ausgerichtet. Doch jetzt rückt eine Ampel mit SPD und Grünen näher. Warum die Liberalen nicht so frei sein dürften, wie sie gerne möchten
Berlin Über dem Hans-DietrichGenscher-Haus in der Berliner Reinhardtstraße hängen dunkle Wolken an diesem regnerischen Septembertag – und auch sinnbildlich. Die feine mehrstöckige Immobilie um den prächtigen Innenhof steht im Zentrum eines heftigen Streits. Eine Adelsfamilie, die in einem ungewöhnlichen Finanzierungsmodell an dem Gebäude beteiligt ist, hat den anderen Besitzer laut Spiegel verklagt. Und bei dem handelt es sich um die FDP, die nun fürchten muss, dass ihre Bundeszentrale zum Verkauf kommt.
Doch ihre künftige Raumsituation interessiert die liberalen Strategen gerade nicht mal am Rande. In der vorletzten Woche vor der Bundestagswahl versuchen sie, die letzten Wählerreserven zu mobilisieren, um mit einem guten Ergebnis eine möglichst aussichtsreiche Position in Koalitionsverhandlungen zu erreichen. Denn dafür, dass die Liberalen der nächsten Bundesregierung angehören, stehen die Chancen ausgesprochen gut. Parteichef Christian Lindner könnte, wenn sich die aktuellen Umfrageergebnisse nicht völlig drehen, sogar die Rolle des Königsmachers zukommen, der am Ende den Ausschlag gibt, ob Armin Laschet von der Union oder Olaf Scholz von der SPD Kanzler wird.
Doch Laschet, mit dessen sicherem Sieg die FDP lange kalkuliert hatte, schwächelt, sein abgeschrieben geglaubter Konkurrent Olaf Scholz ist der Favorit der Demoskopen. Marco Buschmann, Parlamentarischer Geschäftsführer und Vordenker der FDP, sagt: „Union und SPD haben überraschend die Rollen getauscht. Über Jahre war die SPD in sich zerstritten, machte ihren Führungspersönlichkeiten das Leben schwer und war daher praktisch manövrierunfähig. Nun machten
CDU und CSU „in den letzten Wochen genau diesen Eindruck“. Beides, so der enge Lindner-Vertraute im Gespräch mit unserer Redaktion, sei „nicht gut für Deutschland“. Buschmann weiter: „Denn wer ein Land gut regieren möchte, muss schon wissen, was der Kurs ist und wer am Steuer sitzt.“
Für die FDP sind die Chancen, bei der nächsten Regierung auf dem Beifahrersitz zu landen, blendend. Zwar ist die Partei in der jüngsten Forsa-Umfrage um zwei Prozentpunkte auf elf Prozent zurückgefallen, doch die anderen Spieler scheinen nicht stark genug, um auf die Liberalen als Partner verzichten zu können. Die SPD mit 25 Prozent, die Union mit 21 und die Grünen mit 17 Prozent – da deutet alles auf ein Dreierbündnis. Dass Union und SPD ein weiteres Mal paktieren, gilt als unwahrscheinlich. So wird die FDP wohl gebraucht werden als Mehrheitsbeschaffer, kann sich aber die Partner womöglich nicht aussuchen. Sollte die Union der SPD unterliegen, hätte Olaf Scholz die besten Chancen, Kanzler zu werden.
FDP-Chef Lindner hatte zum Unmut vieler Parteifreunde vor vier Jahren eine Koalition mit Union und Grünen ausgeschlagen. Das könnte er sich kaum ein zweites Mal leisten, ohne seinen Posten zu gefährden. Im Moment sitzt der 42-Jährige fester im Sattel denn je. Aus dem Tief nach dem Debakel um die KurzzeitWahl des FDP-Mannes Thomas
Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten mit Stimmen der AfD hat er die Partei kontinuierlich zurück in die Erfolgsspur geführt. In der Pandemie profilierte sich die FDP erfolgreich als Verteidiger von Freiheitsrechten und Anwalt der Lockdown-gebeutelten Einzelhändler und Gastronomen. Unter Lindner hat die FDP ihre Zielgruppe weit über die alte Apotheker- und Steuerberaterklientel hinaus erweitert. Weniger Belastung für Leistungsträger, weniger staatliche Regulierungswut, mehr unternehmerische Freiheit, Klimaschutz mit Augenmaß, das verspricht sie heute.
Lindners Wunschpartner für eine Regierung, in der er gern Finanzminister wäre, sind Laschet und die
Union. Doch es ist kein Geheimnis, dass er auch Olaf Scholz persönlich schätzt. Es fällt auf, dass er sich im Wahlkampf mit Angriffen auf die SPD-Bewerberhoffnung zurückhält. Der anhaltende Höhenflug der SPD zwingt die FDP nun zum Umdenken, auch wenn Lindner öffentlich weiter betont, dass ihm für ein Ampel-Projekt mit SPD und Grünen die Fantasie fehlt.
Doch bei den Liberalen gibt es nicht wenige, die der Meinung sind, dass die Union längst mehr Konkurrent als bürgerlicher Mitstreiter ist. Vorbei sind die Zeiten, als viele konservative Wählerinnen ihre Zweitstimme generös der FDP „liehen“, weil die als Koalitionspartner im Bund gebraucht wurde. Heute wirbt die FDP auf Plakaten offensiv um beide Stimmen, zum Leidwesen der Union. Vor der Wahl marschiert jeder für sich, und sollte die Union verlieren, wird die FDP keine allzu großen Verrenkungen dafür machen, doch noch ein Jamaika-Bündnis zu zimmern.
Lindners Chefberater Marco Buschmann sagt: „Die Strategie der FDP ist glasklar. Wir wollen so stark werden, dass keine Regierung gegen uns gebildet werden kann.“Ein Treueschwur an die Union sieht anders aus. Notfalls könnte die FDP eben auch als liberales Korrektiv SPD und Grüne bändigen. Eine starke FDP sei in jedem Fall für konservative Wähler wünschenswert, so der Tenor im GenscherHaus. Marco Buschmann sagt: „Nur dann ist sichergestellt, dass das Land nicht nach links rutscht, sondern die großen Herausforderungen mit den Instrumenten der politischen Mitte angeht: den Staat digitalisieren, die Wirtschaft in Gang bringen, die sozialen Sicherungssysteme nachhaltig machen, mehr Aufstiegschancen für mehr Menschen und das Klima mit Innovation durch Marktwirtschaft schützen.“