„Ich kam hierher und bin nie zurückgekehrt“
Für die Textilindustrie zogen viele Gastarbeiter nach Augsburg. Dann brach die Branche zusammen. Eine neue Perspektive musste her. Über Erfolgsgeschichten, Rückschläge und eine unerwartete zweite Heimat
Ein paar Jahre wollte sie in Augsburg bleiben, Geld verdienen und dann zurückgehen in die Türkei. Das war I˙lmıye Öztürks Plan, als sie mit 26 Jahren Istanbul in Richtung Augsburg verließ. Das Datum weiß die Seniorin heute noch ganz genau: Es war der 10. Mai 1968. Aus ein paar Jahren sind mittlerweile 53 geworden, mehr als ein halbes Leben.
I˙lmıye Öztürk, heute 79, sitzt im „Wohnzimmer“, einem Treffpunkt im Schwabencenter, einem Einkaufszentrum im Südosten von Augsburg. Organsiert von der Arbeiterwohlfahrt treffen sich hier einmal in der Woche türkischsprachige ältere Menschen in einer Betreuungsgruppe, I˙lmıye Öztürk kommt gerne dazu.
Jetzt, das erste Mal nach einer langen pandemiebedingten Pause, freuen sich alle, dass sie sich endlich wieder in der größeren Runde sehen können. Man hat viel zu erzählen. Die Seniorinnen und Senioren grüßen sich mit „merhaba“und vertiefen sich sofort ins Gespräch. Wie I˙lmıye Öztürk wollten einige, die hier gemeinsam frühstücken, ursprünglich nur für ein paar Jahre in Augsburg sein – doch auch bei ihnen ging es dann ganz anders.
Die Textilindustrie zog viele angeworbene Arbeitskräfte nach Augsburg. Sie bauten ihr Leben um die Schichtarbeit herum auf, gründeten Familien oder brachten sie aus dem Ausland nach Augsburg. Doch dann brach in den 1980ern und 1990ern der Sektor nach und nach zusammen. Die Arbeitskräfte brauchten eine neue Perspektive. Nach dem ersten Neuanfang in der Textilindustrie mussten sie nun einen zweiten wagen und sich eine neue Existenz aufbauen.
Ab 1955 kamen angeworbene Arbeitskräfte nach Deutschland, aus Italien, später aus Spanien und Griechenland, ab 1961 auch aus der Türkei. Die deutsche Wirtschaft brummte, die Firmen suchten nach Arbeitskräften. Allein aus der Türkei kamen zwischen dem Anwerbeabkommen mit Deutschland 1961 und dem Anwerbestopp 1973 mehr als˙800.000 Personen.
Ilmıye Öztürk hatte in Istanbul bereits in einer Textilfabrik als Facharbeiterin gearbeitet. Die Reise nach Deutschland trat sie alleine an – ihr Ehemann und die beiden Töchter blieben zunächst in der Türkei. In Augsburg ging es gleich nach der Ankunft in die Augsburger Kammgarnspinnerei, kurz AKS, ein großes Traditionsunternehmen im Textilviertel. Davon erzählt I˙lmıye Öztürk auf Türkisch, „Kammgarn“ist immer wieder auf Deutsch herauszuhören. Denn „Kammgarn“, das klang auch 1968 vertraut. Schon in Istanbul hatte I˙lmıye Öztürk bei einer Fabrik gearbeitet, der „AKSU Kammgarn“. Dann, erinnert sie sich, sei doch vieles ganz anders gewesen als in der Türkei. Die Maschinen seien älter gewesen, der Arbeitsrhythmus ganz anders, als sie es gewohnt war. „Aber ist egal“, sagt sie, „ich kam hierher und bin nie zurückgekehrt.“
Bald gewöhnte sie sich in der AKS ein. Sie war hier in der Zwirnerei beschäftigt, wo Maschinen mit jeweils 80 bis 90 Spulen aus mehreren Fäden ein robusteres Garn drehten. Die Maschinen liefen automatisch, jede Person überwachte mehrere und achtete darauf, dass es keine Probleme gab. I˙lmıye Öztürk schlug sich gut, nach ein paar Monaten lernte sie selbst andere Arbeitskräfte ein – türkischsprachige, aber auch deutsche und andere. Das gelang ihr, ohne Deutsch zu sprechen, weil viele Arbeitsprozesse systematisiert und vereinheitlicht waren. Trotzdem, sagt sie, habe sie sich ein bisschen geschämt, weil sie kein Deutsch konnte.
Die junge Frau vermisste den Mann und die zwei Töchter. „Ich habe sehr geweint“, erzählt sie heute. Acht Monate dauerte es, dann konnte auch Ehemann Rasim Öztürk nach Augsburg kommen, ebenfalls zur AKS. Der Plan war klar: Die Töchter nachholen, Geld verdienen und dann wieder zurück in die Türkei. So wollten viele angeworbene Arbeitskräfte es machen. Sie arbeiteten doppelte Schichten, nachts oder zusätzlich am Wochenende. Freizeit war knapp bemessen, Sparen war angesagt, damit für später genug übrig bleiben würde.
Als die Menschen nach Deutschland kamen, wurden sie als Gastarbeiter bezeichnet. Der Begriff wurde später stark kritisiert. Denn wie oft angemerkt wurde, müssen Gäste nur selten arbeiten, während sie da sind. Der Begriff zeigt aber die Erwartung deutscher Behörden: Die Menschen sollten hier arbeiten – und dann wieder gehen. Es war eine Geschäftsbeziehung auf Zeit. Und auch viele angeworbene Arbeitskräfte rechneten selbst nicht damit, dass aus ein paar Jahren ein halbes Leben werden würde. Sie bauten sich eine Existenz auf – und sie bauten die deutsche Wirtschaft mit auf. Ohne sie wäre auch die stolze Augsburger Textilindustrie nicht so erfolgreich gewesen.
Mit der Zeit passierte dabei, was Ilmıye ˙ Öztürk schildert: Das Leben ging weiter und entwickelte sich, richtete sich stärker auf Deutschland aus. Viele konnten ihre Familien nach Deutschland holen oder gründeten sie hier. Sie engagierten sich in der Stadt, gründeten Vereine, bauten sich nach und nach etwas in Augsburg auf.
So war es auch bei Familie Öztürk. Die beiden in der Türkei geborenen Töchter kamen ein Jahr nach der
Mutter nach Augsburg. Fünf Jahre arbeitete I˙lmıye Öztürk bei der AKS, dann machte sie eine Pause, als ein Sohn, eine weitere Tochter und nochmal ein Sohn zur Welt kamen. Dann ging es wieder in die Fabrik, zuerst zu Osram, später wieder in die Textilbranche, zur Mechanischen Baumwollspinnerei und Weberei Augsburg, der traditionsreichen SWA.
Um die Familie kümmerte sich Ilmıye ˙ Öztürk nach der Arbeit – ein harter Alltag mit wenig Zeit für eine Pause. Ein Foto von I˙lmıye Öztürk zeigt sie als junge Frau bei der SWA. Sie liegt auf einer Art Pritsche mit Rädern und ruht sich kurz in einer Ecke der Fabrik aus, bevor sie weitermachen muss. Aus ihrer Erzählung wird klar, wie hart der Alltag zwischen Arbeit und Familie damals war. Die Kinder seien oft krank gewesen, außerdem musste sie nach ihren Schichten den Haushalt bewältigen. „Ich war immer müde“, sagt sie, vermutlich wegen einer Blutarmut. „Ich weiß nicht, wie ich das geschafft habe.“
So lange in Deutschland gehalten hat Öztürk vor allem die Familie. Das wird offensichtlich, wenn die Seniorin heute über ihre Kinder und Enkelkinder spricht. Sie erzählt auf Türkisch, aber „Enkelkinder“, das sagt sie auf Deutsch und mit einem sanften Lächeln im Gesicht. Die Familie ist in Deutschland, die Kinder und Enkelkinder sind hier aufgewachsen, sind hier zur Schule gegangen, arbeiten hier, sind hier verwurzelt. Aus dem Wunsch, in die Türkei zurückzugehen, sind wie bei vielen nur noch längere Besuche in der Türkei geworden.
Solche Reisen buchen bis heute viele Menschen über Ziya und Zafer Derinalps Reisebüro in der Ulmer Straße in Augsburg. Im Reisebüro stellt sich mit Fotos von Urlaubsorten und Reiseangeboten sofort ein wenig Urlaubsstimmung ein. Vater und Sohn haben sich das Reisebüro „Çatur – Zafer Reisen“gemeinsam aufgebaut. Wenn sie davon erzählen, wechseln sie sich ab und ergänzen aus ihren Erinnerungen. Dass sie ein gutes Team sind, der Vater mit der ruhigen Art und der zugewandte Sohn, ist leicht zu sehen.
Auch Ziya Derinalp war einst für die Textilindustrie nach Augsburg gekommen, arbeitete als Textilfärber lange Schichten und verdiente sich als Reinigungskraft etwas dazu – ein anstrengender Alltag, in dem nur am Wochenende manchmal Zeit für die Frau und die drei Kinder blieb. Doch er wollte für seine Familie viel verdienen – für die Zeit, in der man wieder in der Türkei leben würde. Am Ende blieb auch Familie Derinalp in Augsburg, baute sich etwas auf, die Kinder und Enkelkinder wuchsen in Deutschland auf.
Das Ende der Textilindustrie traf viele Menschen in Augsburg unvorbereitet – auch viele angeworbene Arbeitskräfte. Eine schwierige Situation: „Diese Industrie, für die man gekommen war, die verschwindet, kaum dass man da ist“, schildert Günter Kronenbitter die damalige Lage. Gemeinsam mit einem wissenschaftlichen Team der Universität Augsburg hat der Professor vom Lehrstuhl Europäische Ethnologie/ Volkskunde sich mit den Lebensgeschichten von Menschen befasst, die als angeworbene Arbeitskräfte nach Augsburg gekommen waren. Herausgekommen ist im Juni 2021 das Buch „Zurückgespult – Arbeit und Alltag von AugsburgerInnen aus der Türkei“. Für das Projekt schilderten angeworbene Arbeitskräfte aus der Türkei ihren Lebensweg. Viele von ihnen, erzählt Kronenbitter, seien sehr flexibel gewesen und hätten andere Möglichkeiten gefunden. Mit viel Mut und Energie hätten sie etwas Neues geschaffen und sich an neue Situationen angepasst.
Ziya Derinalp und sein Sohn Zafer beschäftigen mittlerweile im Reisebüro zwei weitere Personen, sie bilden selbst aus. Ziya Derinalp, der als Gastarbeiter nur zur Lohnarbeit nach Deutschland kommen durfte, hat ein Unternehmen aufgebaut, das wiederum für Arbeitsplätze in Augsburg sorgt. Er selbst ist inzwischen in Rente, sein Sohn führt das Geschäft weiter.
Yeliz Takoparan, die sich im Arbeitskreis „Vielfalt in Augsburg“engagiert,
Sie bauten ihr Leben um die Schichtarbeit auf
Anerkennung für die Leistung der Großeltern
führt seit 2009 Interviews mit zugewanderten Arbeitskräften, zunächst für die Eröffnung des Staatlichen Textil- und Industriemuseums in Augsburg, dann auch für das „Zurückgespult“-Projekt. Die Beschäftigung mit den Erzählungen der ersten Generation, zu der auch ihre Großeltern gehören, sei ein Weg für sie gewesen, die eigenen Wurzeln zu ergründen, sagt Takoparan.
Sie hat erfahren, wie gerne die Menschen von ihren Erlebnissen berichten. „Sie wollen eine Anerkennung und Wertschätzung – nicht nur als Geduldete, sondern als die, die etwas beigetragen haben“, sagt sie. Mit ihrer Arbeit will die Lehrerin etwas schaffen, das eine Verbindung zwischen der ersten Generation und den nachfolgenden Generationen herstellt. „Ich möchte etwas dazu beitragen, dass andere ihre Geschichte hören. Denn sie gehören zur Geschichte Augsburgs dazu.“
Dieser Artikel ist Teil des Projekts „Der Stoff, aus dem die Stadt gemacht ist“, das in Kooperation mit der Deutschen Journalistenschule in München entstanden ist.
IIm Internet www.textilesaugsburg.de